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Ein verlassenes Motorboot vor der Abenddämmerung über der größten Insel Deutschlands.

© Christian Thiele/Tourismusverband Rügen

Gesellschaft: Rügen rund um die Uhr

"Tag am Meer" heißt ein Lied der Fantastischen Vier. Möglich, dass sie über Rügen singen, die Insel hat schon viele Künstler inspiriert. Unser ganz eigener Tag am Meer führt mit der Sonne über drei Halbinseln, zu bekannten und unbekannten Ufern.

Vormittags: Spurenlesen im Wald

Nationalpark Jasmund

Mein Tag der Rügenentdeckungen beginnt früh am Morgen in der Stubnitz. Frank Meier spielt mit mir „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Er geht tief in die Hocke, kriecht übers Moos. „Hufabdrücke“, murmelt er. „Ballen, Ballen, Spitze.“ Er steht wieder auf. „Darüber eine kleine Delle, alles klar?“ Ähm, ja, Spuren halt. Meier lächelt. „Na, Mufflons. Und ein Frosch, der drübergehüpft ist.“ Wir gehen weiter durchs Unterholz, schauen nach Pflanzen, nach Gräsern und Kraut. Ich erkenne gerade mal die Buschwindröschen, Meier sieht mehr: Natternzunge, Klappertopf, Sumpfsitter, wo gibt es die heute noch? Laufkäfer zwischendrin, Perlmuttfalter und Blutströpfchen über Blüten. Leben, Spuren überall. Man muss nur gucken lernen. Frank Meier kann das schon ganz gut. Er ist Ranger im Nationalpark Jasmund, dem kleinsten Deutschlands, oben im Nordosten der Insel.

Keine hundert Meter weiter fällt Meier wieder auf die Knie. „Oh, hier“, ruft er und zeigt auf die nächste Spur. Dabei sieht er mich erwartungsvoll an, also müsste ich da nun wirklich selbst drauf kommen. „Na?“ Bärenkrallen würde ich vermuten, wenn es nicht so abwegig wäre in diesem Teil Deutschlands. Meier hat den Glauben an mich noch nicht ganz aufgegeben und will mir auf die Sprünge helfen: „Für ein Reh zu groß. Und bei einem Wildschwein wären es mehr Hinterzehen.“ Tja, nun, ähm. „Damwild“, sagt er endlich. „Einer mit dickem Geweih dabei, seine Spuren sind tiefer.“ Vor gerade zwei Stunden seien sie hier entlangzogen, alles noch ganz frisch.

Wir marschieren weiter, der Ranger und ich. Quer durch die Stubnitz, den schönsten Teil des Nationalparks. Wir queren Bäche, stapfen über sumpfige Wiesen und an Mooren vorbei, steigen über umgestürzte Bäume. Der Boden ist weich, aber das täuscht: Knapp unterm Humus liegt die mächtige Rügener Kreide. Am nahen Königsstuhl, dem leuchtenden Felsen am Steilufer, stößt sie beeindruckend hervor. Hier hingegen, zwischen Buchen, Erlen, Fichten und Eschen, ist sie nur eine ferne Ahnung. Wir laufen durch eine lange Waldgasse, rechts und links steigt der Boden auf wie erstarrte Wogen. Das sind Stauchwellen aus der Eiszeit, sie hat die Gegend wie einen riesigen Teppich gefaltet. Die Waldgassen, das sind Hauptstraßen für das Wild.

Wir treffen wieder auf Spuren, die des Damwilds erkenne ich inzwischen. Sie werden gekreuzt von Rotwild-Tritten, von Wildschweinspuren. Meier bemerkt einen „schlanken Fünfer“, damit meint er einen Marder. Auch ein Marderhund war hier unterwegs, das Trittsiegel „eher breit als lang“. Meier klaubt eine gefleckte Feder auf - ich hätte nicht erkannt, dass sie von einem Bussard stammt. Er streicht damit über einen Abdruck. „Fünf Zehen, ein Fuchs.“ Dachsspuren führen uns zu einem Loch neben der mannshohen Wurzel einer sturmgefällten Buche - es ist die Höhle von Meister Grimmbart. „Viel Truppenbewegung heute früh“, fasst Meier zusammen.

Im Kopf sortiere ich die neu gelernten Spuren, da stoßen wir auf eine Handvoll Scherben aus Feuerstein, wie hingeworfen vor einem Stamm. Reste einer Klinge, einer Pfeilspitze vielleicht. Dies muss der Arbeitsplatz eines Handwerkers der Bronzezeit gewesen sein. Sein Grab mag unterm kleinen Hügel dort drüben liegen, die Stubnitz ist voll davon, ein großer Friedhof der Frühgermanen. Ein paar Bäume weiter finden wir eine Zigarettenschachtel und eine Plastikdose. Moderne Steinzeitmenschen gibt es hier wohl auch noch.

Der Müll ist ein Sakrileg in diesem streng geschützten Park, in diesem „Rückbesinnungsgebiet für die Natur“, wie Ranger Meier das nennt. „Wir lassen sie in Ruhe, damit sie heil wird.“ Der Nationalpark Jasmund heilt unter der Haube des Nationalparkgesetzes seit bald 30 Jahren.

Blumensatte Wiesen im Biosphärenreservat Südost-Rügen.
Blumensatte Wiesen im Biosphärenreservat Südost-Rügen.

© René Geyer

Mittags: Biosphärenreservat Südost-Rügen

Ich lasse den Nationalpark hinter mir, denn am Mittag bin ich auf dem Zickerschen Höft verabredet, einer Nehrung auf Rügens Halbinsel Mönchgut. Das Höft ist Teil des Biosphärenreservates Südost-Rügen, wo auf kleinem Raum das Beste der Insel zusammenkommt: Halbinseln mit Wieken, Bodden und offener See, dazu schroffe Kliffs und dichte Schilfgürtel, breite Sandstrände und dunkle Buchenwälder, nicht zuletzt die gewaltigen Findlinge an steinigen Ufern. Hier auf dem Höft liegen Rügens blumensatte Wiesen. Wer Ende September herkommt, erlebt sie in schönster Pracht.

Für René Geyer, besser bekannt als „Kräutergeyer“, sind Pflanzen nicht einfach Blatt, Stengel und Blüte. Für ihn sind sie reale Lebewesen. „Pflanzengeister“, nennt er sie darum, wirkmächtige Geschöpfe der Natur. Nach einer Tour mit dem 46-jährigen mag man das gern glauben. Heute ist er auf dem Zickerschen Höft unterwegs, um die Geister einer Gruppe Wissbegieriger vorzustellen.

Schon auf den ersten Metern ist die Tour ein Stop-and-go, wir kommen nur langsam voran. Und das ist auch volle Ansicht. Alle paar Augenblicke nämlich weist Kräutergeyer auf eine Pflanze am Wegesrand. Auf das Habichtskraut, die Pechnelke, das Gewitterblümchen. Zu jeder hat er eine Geschichte. Die Schafgarbe etwa nennt Geyer „die Augenbraue der Venus“, wegen ihrer filigranen Blätter. Er empfiehlt, sie einmal im Rührei zu probieren, und zwar nicht nur wegen ihres würzigen Geschmacks. „Sie ist einer der heilkräftigsten Pflanzengeister Europas“, sagt er. Sie helfe gegen Kopfschmerzen, Regelschmerzen, Magenbeschwerden. Außerdem habe sie, wie eigentlich die meisten Heilkräuter, allenfalls sanfte Nebenwirkungen. Nichts gegen die moderne Medizin. „Aber warum soll man das alte Wissen nicht neu entdecken?“, fragt Geyer. „Unseren Großeltern hat es doch auch geholfen.“

René Geyer, Naturführer auf Rügen, hier mit einer Kandelaberlinde im Schlosspark Puttbus.
René Geyer, Naturführer auf Rügen, hier mit einer Kandelaberlinde im Schlosspark Puttbus.

© Harald Schmitt

Rügen ist, das lernen wir schnell, eben auch eine große Wald- und Wiesenapotheke. Dabei müssen die Pflanzen gar keine schillernden Namen tragen, um menschliche Leiden zu lindern. Den gewöhnlichen Meerrettich zum Beispiel empfiehlt Geyer bei zu hohen Cholesterinwerten. Den Hasenklee preist er als Mittel gegen Durchfall - die Fischerbauern Mönchguts nannten die Pflanze deshalb gerne „Morsstopper“. Oder hier, der Wilde Majoran, als Teeaufguss eine wunderbare Agens gegen Husten. „Seine rosa Blüten veredeln jeden Käse“, sagt Geyer und lässt reihum schmecken. Ach, und erst der Spitzwegerich, dieses Nullachtfuffzehn-Gewächs. Geyer hält ein Blatt hoch. „Gleich nach dem Pflücken einige davon in Honig einlegen, und nach ein paar Wochen ist das der beste Hustensaft.“ Als wäre das nicht genug, dient er auch noch als Ersthelfer gegen Sonnenbrand. Geyer legt sich meist ein paar zerkaute Blätter in den Nacken. „Dort hole ich mir immer zuerst einen Sonnenbrand, weil ich nur nach unten schaue.“ Knapp 500 Pflanzen sind auf Rügen beheimatet. Zu allen, schwört Geyer, könne er etwas erzählen.

Der Kräuterexperte ist nebenbei ein begeisterter Fotograf. Oft kriecht er stundenlang auf allen Vieren, die Kamera im Anschlag. „Ich fotografiere immer auf Augenhöhe der Pflanzengeister, nie von oben herab“, sagt er. Der Lohn eines Tages auf Blütenniveau sind einmalige Bilder, einmal erwischte er eine gelbschwarze Schwebfliege in einer Rundblättrigen Glockenblume. Der Preis sind schmerzhaft steife Gelenke. Zum Glück ist er mit einer Physiotherapeutin verheiratet, die zudem seine Leidenschaft für die Pflanzengeister teilt. Er hatte die damalige Münchnerin vor Jahren bei einer seiner Führungen kennengelernt, „zwischen Ferkelkraut und Buntem Hohlzahn“.

Ich richte den Blick auf, nach den vielen Kräutern erinnert mich die Weite daran, wo ich hier unterwegs bin. Aus einem nahen Gehölz mit Ulmen, Schlehen und Wildbirnen schlägt der Pirol, darüber rüttelt ein Turmfalke im Blau. In der Ferne fahren Segelboote. Segelboote? Da war noch was! Mein Tag der Rügen-Entdeckungen ist noch lange nicht zu Ende. Von innen habe ich die Insel jetzt ausführlich betrachtet. Es wird Zeit, sie von außen anzusehen, vom Meer aus.

Maik Brandenburg

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