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Premium Eierlikör aus Berlin der Marke Rübbelberg

© Kai-Uwe Heinrich

Rübbelberg, nicht Verpoorten: Drei Berliner erfinden den Eierlikör neu

Als Kinder kosteten sie, wenn die Omas Eierlikör machten. Kann man Geschmack zurückzuholen? Drei Berlinern gelang es. Das veränderte ihr Leben.

Unter dem Einfluss verschiedener Alkoholika dachten drei Freunde im Sommer 2017 über Getränke ohne Zukunft nach. Über Flüssigkeiten, denen absolut und unter keinen Umständen mehr zu helfen ist. Platz eins belegte unangefochten der Eierlikör im Waffelbecher. Passt zum neunzigsten Geburtstag, dann am besten in Schokoladenzahlen oben auf der Torte, aber auch das nur bei Großmüttern. Kein Widerspruch. Keine Gegenstimme.

Vor der Markthalle 9 in der Kreuzberger Eisenbahnstraße wartet ein großer dunkelblonder junger, sorgfältig gekleideter Mann, Typus Akademiker, der den Eindruck, hier in einem fremden Universum gelandet zu sein, nicht ganz vermeiden kann. Das ist Sebastian Tigges, Anwalt für Insolvenzrecht, Miterfinder der aufstrebenden Eierlikörmarke „Rübbelberg“. Tigges entschuldigt seine beiden Co-Unternehmer, die vormaligen Eierlikörskeptiker Christopher Leidinger und Philipp Nagel. Leidinger musste kurzfristig eine Auslandsvertretung übernehmen. Eigentlich hätte er sagen müssen: Es tut mir leid, am Wochenende kann ich nie, da bin ich in der Markthalle 9 und verkaufe Eierlikör, und zwar meinen eigenen. Doch er hat sich nicht getraut. Auch Sebastian Tigges bemüht sich bis jetzt, in seiner Kanzlei nicht als Eierlikörmann aufzufallen. Ja, sie haben es getan. Sie haben das No-Future-Getränk neu erfunden.

Es ist nicht prestigefördernd, wenn ein erfolgsorientierter junger Mann anderen erfolgsorientierten jungen Männern erzählt, wie es war, als er zum ersten Mal Eierlikör trinken durfte. Dazu muss man schon sehr, sehr gut befreundet sein. Wir sind sehr gut befreundet, sagt Sebastian Tigges. Und so berichtete der Anwalt für Insolvenzrecht dem Hausjuristen zweier Berliner Unternehmen und dem IT-Berater, wie er jedes Mal einen Finger voll vom Schüsselrand streichen durfte, wenn seine Oma Eierlikör machte. Nachrichten aus einer Zeit, als man noch unsterblich war. Auch seine Freunde fielen mit ähnlichen Bekenntnissen auf. Der gemeinsame Nenner: Nur der Selbstgemachte schmeckt. Aber welcher genau?

Sie begannen, anfangs jeder für sich, über das typische Oster-Problem nachzudenken: Gibt es eine Auferstehung von den Toten? Vielleicht sogar für Eierlikör?

Sebastian Tigges Schwester Clara, die Studentin ist, hilft als Verkäuferin aus, wenn keiner der Likörspezialisten Zeit hat.
Sebastian Tigges Schwester Clara, die Studentin ist, hilft als Verkäuferin aus, wenn keiner der Likörspezialisten Zeit hat.

© Kai-Uwe Heinrich

Der Vorfahr des Eierlikörs kommt vom Amazonas

Sollte es nicht möglich sein, den Geschmack von damals zurückzuholen? Als Laboratorium wurde die Küche des juristischen Beraters Philipp Nagel gewählt. Der war gerade Vater geworden, die Küche gehörte vor allem dem Babybrei, aber nun wurde sie zum Schauplatz groß angelegter Versuchsreihen. Nur das Eigelb war nicht abwählbar. Ohne Ei kein Eierlikör. Alles andere war offen. Wodka, Whisky, Korn, Grappa oder Rum?

Rum ist gar nicht abwegig, denn der Vorfahr des Eierlikörs kommt vom Amazonas. Es ist schon eine, nüchtern betrachtet, ziemlich abwegige Idee, aus Eiern eine Spirituose zu machen, so sahen das die Ureinwohner Brasiliens wohl auch: Sie mischten Avocadocreme mit Rum und Rohrzucker, fertig war das Abacate. Die holländischen Seefahrer liebten es, weshalb sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat als Pioniere der Landwirtschaft auffielen. Ohne Avocados kein Abacate. Doch die Avocadobäume widerstanden jedem Kultivierungsversuch in Holland, bis jemand die entscheidende Idee hatte: Dann nehmen wir eben Eier. Wir waren das!, behauptete Mitte des 19. Jahrhunderts Verpoorten. Die Firma dominiert den deutschen Eierlikörmarkt.

Ei, Ei, Ei Verpoorten? Tigges formt seine Augenbrauen zu zwei Bögen grundstürzender Skepsis. Seine Freunde und er gehören zu der Generation, die bei der Erwähnung von größeren Marken wie Verpoorten nicht zuerst an Eierlikör denkt, sondern an Karfreitagsbilder der industriellen Geflügelhaltung. Nie würden sie einen Eierlikör trinken, auf dem nicht vermerkt ist, dass die Hühner ihre Eier tendenziell gern gegeben haben. Bio, etwas anderes ist undenkbar.

Tigges kann sich schon gar nicht mehr an ein freies Wochenende erinnern, es muss in einem anderen Leben gewesen sein. Seit dem letzten Juliwochenende des vorigen Jahres steht er Sonnabend für Sonnabend an diesem Stand ziemlich weit hinten in der Markthalle 9, hinter sich auf blauem Grund der Name „Rübbelberg“, umrahmt von Eierlikörflaschen in drei Größen.

"Rübbelberg" war Philipps Idee

Als alkoholischer Träger konnte sich souverän der Korn durchsetzen. Urig, bodenständig, kernig. Und so ist der Name. Als hätte es ihn schon immer gegeben. Aber Rübbelberg war Philipps Idee. Im Café der Markthalle öffnet Tigges jetzt einen kleinen Rübbelberg. Cafés schätzen es gemeinhin nicht, wenn Gäste ihre eigenen Spirituosen mitbringen, aber es ist zu voll, um negativ aufzufallen. Cappuccino und Eierlikör sind eine gute Kombination. Tigges nimmt den ersten Rübbelberg des Tages, und ja, da ist er, der Korn, ganz vorn auf der Zunge. „Und warum ist er da?“, fragt Tigges. Wegen der Limette! Keine Zitrone, keine Orange – Limette. „Die Limette holt den Korn“, formuliert er mit einem Anflug von Leidenschaft.

Normalerweise verraten kleine Manufakturen ihr Geheimnis nicht. Hergestellt nach altem Familienrezept heißt es dann salomonisch, aber drei jungen Männern glaubt das ohnehin keiner. Außerdem ist es auch schade, nichts von der Expedition durch die Geschmackskosmen des Eierlikörs berichten zu dürfen. Oft hat er einen Milchträger. Das gibt ihm dieses Dickflüssige. Sie haben alles durchprobiert. Das Ergebnis: Kondensmilch ist ideal, in jedem Fall Kondensmilch! Aber als sie das herausgefunden hatten, gestanden sie sich gegenseitig, dass sie das Dickflüssige am Eierlikör schon immer gestört hat. Wie das aus der Flasche ploppt! Nein, lieber nicht.

Eierlikör wird zu achtzig Prozent von Frauen gekauft, am Verzehr sollen sich Männer jedoch, unsicheren Quellen zufolge, überprozentual beteiligen. Ihre Freundinnen waren bei der Erfindung des Rübbelberg nur als Beobachterinnen akkreditiert, mit begrenzter beratender Funktion. Aber ihre Meinung wurde nicht berücksichtigt, jegliches Milchprodukt gestrichen. Noch aber ist das entscheidende Ingredienz, das den Rübbelberg erst zum Rübbelberg macht, gar nicht erwähnt. Wir haben lange danach gesucht, sagt Tigges, aber als wir begannen, eigenhändig große Vanilleschoten auszuschaben, wussten wir, dass wir es haben. Das war sie, die natürliche Bundesgenossin des Eis, die perfekte Gegenspielerin von Limette und Korn. Eine ganze Vanilleschote steckt in einem halben Liter Likör.

Selbst die kleinen Destillen lachten

Erlesene Zutaten, erlesener Preis: 500 ml Rübbelberg für 29 Euro. Manche der Leute, die rings um die Markthalle wohnen, empfinden solche Kostenpunkte wie Hohn auf ihre Einkommensverhältnisse. Luxus-Food, sagen sie. Die Markthalle passe nicht mehr ins Viertel, zumal wenn jetzt der halleneigene Aldi-Markt schließe. Aldi müsse bleiben, das findet auch Sebastian Tigges.

Zur Zeit der Küchenexperimente war alles Spaß, spielerischer Gegenkosmos zu den Welten der Paragraphen und Bytes, die gewöhnlich das Sozialverhalten eines schwarzen Lochs zeigen: Sie saugen an und verschlingen, aber sie antworten nur selten. Hier war das anders. Sebastian Tigges, Christopher Leidinger und Philipp Nagel begannen fortan, durch ein nicht gerade cooles Mitbringsel auf Partys aufzufallen: selbstgemachter Eierlikör, als wären sie ihre eigenen Mütter. Voller Selbstbewusstsein sahen sie in mokante Gesichter. Aber bald folgte immer dieselbe Frage: Könnt Ihr uns auch so eine Flasche machen, wir würden die auch bezahlen?

„Wir brauchten dringend 100 Flaschen“, sagt Tigges, aber selbst die kleinen Destillen lachten: 100? Bei 5000 könnten wir anfangen, vielleicht. Nur ein junger Schnapsbrenner aus der Lüneburger Heide, genauso alt wie sie, ließ sich schließlich auf 1800 runterhandeln. Er glaubte an sie und den Rübbelberg. Zwei befreundete Designer entwarfen ihnen die filigranen, blau-goldenen Etiketten. Sie fanden ihre Flaschen unsagbar schön, notfalls würden sie die 1800 für den Rest ihres Lebens anschauen und jedes Jahr ein paar von ihnen austrinken. Es gibt Dinge, die entfalten so merkwürdige Eigendynamiken, überlegt Tigges, die entwickeln sich, anders als das Insolvenzrecht, vollkommen organisch, was in diesem Fall ein anderes Wort für das Unausweichliche ist.

Tigges lädt Vorübergehende zum Probieren ein, und sieht mit großer innerer Bewegung, wie die Gesichtszüge der Rübbelberg-Testtrinker sich zu lösen beginnen, nicht selten gar einen Ausdruck offenen Behagens annehmen. Menschen solcher Gemütsverfassungen begegnet der Anwalt für Insolvenzrecht gewöhnlich nicht, zumindest nicht berufshalber. Er kennt alle Grade von Sonnenfinsternissen auf menschlichen Gesichtern. Wer seine Kanzlei betritt, für den hat der Karfreitag längst begonnen, und die Hoffnung auf Ostersonntage, auf Auferstehungen zu Lebzeiten hat er aufgegeben.

Was wollt ihr hier anbieten, Eiiierlikööör?

Jedes Mal, wenn jemand sagt „Eine Flasche Rübbelberg bitte“, zuckt Tigges noch immer unmerklich zusammen. Vor Glück. „Es ist ein unglaubliches Gefühl“, sagt der Jurist und streicht sich langsam die Strähnen aus der Stirn. Ein ganz und gar Fremder möchte das intime Produkt meiner kulinarischen Erfahrung erwerben! Was für eine Resonanz, was für eine zwischenmenschliche Begegnung! Hinter dem „Rübbelberg“-Stand steht jetzt Tigges Schwester Clara, Studentin, die immer hilft, wenn es eng wird für die drei Likörmänner. Ein junges Paar probiert, wirft sich einen Blick höheren Einverständnisses zu und kauft eine große Flasche. Dass gleich Ostern ist, hilft natürlich. Eierlikör verkauft sich, wenn überhaupt, nur Weihnachten und Ostern, erklärten ihnen Leute, die sich Realisten nannten. Sie sind schon widerlegt.

Den Stand in der Markthalle hätten sie beinahe nicht bekommen. Was wollt ihr hier anbieten, Eiiierlikööör?, fragte die Markthallenmitarbeiterin, hatte ein Gesicht wie Das-glaubt-ihr-doch-selber-nicht und hielt die Anfrage für einen Scherz. Allerdings hatten die drei Akademiker vorsorglich eine Rübbelberg-Probeflasche im Büro zurückgelassen. Als die leer war, kam ein Anruf: Ihr wollt einen Stand? Kein Problem! Und einen Keller gibt es auch dazu.

Einen Keller! Es war ein Wort wie eine Erlösung. Jeden Augenblick konnten die 1800 Flaschen „Rübbelberg“ der Erstlieferung eintreffen, rekapituliert Tigges die Lage Mitte Juli 2018. Das hieß, jeder musste 600 Flaschen in sein Wohnzimmer stellen, das wussten sie, aber weder Philipp Nagel, noch Christopher Leidinger oder Sebastian Tigges hatten ihre Freundinnen bisher von diesem Sachverhalt ausreichend in Kenntnis gesetzt. Und nun: ein Keller!

Nach Feierabend verschwanden sie im Keller

Allerdings sahen sie die 1800 Flaschen nicht ohne ein Gefühl von tiefer Verzagtheit eintreffen und im Markthallenkeller verschwinden. Dort lagen nun also ihre gesamten Ersparnisse, auch das mussten sie ihren Freundinnen noch erklären. Es war der Moment, als sie glaubten, nicht eine einzige der 1800 sei verkäuflich. 1800 Flaschen eines Getränks ohne Zukunft auf eigene Kosten! War das nicht ein Fall von mutwilliger, vorsätzlich herbeigeführter dreifacher Beinahe-Privatinsolvenz?

Dann standen sie in der Hitze des letzten Sommers hinter ihrem Stand in der Markthalle, statt am See zu liegen. Dreißig Grad plus. Alles Mögliche wollten die Leute da trinken, aber doch nicht Eierlikör. Und dann die erste verkaufte Flasche! Sie jubelten, wenn ihr Mobiltelefon ihnen anzeigte, dass jemand einen Rübbelberg online bestellt hatte. Im Spätherbst brachten ihre Handys allerdings fast nur noch Rübbelberg-Nachrichten, und wenn sie Feierabend hatten, verschwanden sie im Markthallen-Keller und packten und packten. Kleine Läden meldeten sich, die wollten den Rübbelberg ins Sortiment aufnehmen, und schließlich bestellten die renommierten Kaufhäuser der Stadt. Die kleine Destille in der Lüneburger Heide dampft.

Wenn das so weitergeht, sagt Tigges, muss einer von uns über seine berufliche Zukunft nachdenken.

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