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In diesem Haus in Kassel lebte Stephan E. mit seiner Familie.

© Sebastian Leber

Rechtsextremer unter Mordverdacht: Der furchtbar normale Stephan E.

Die Behörden hatten den Verdächtigen im Fall Lübcke seit mehr als 25 Jahren im Visier. Dass Stephan E. zuletzt nicht mehr auffiel, folgt einem bekannten Muster.

Sein Haus liegt auf einer Anhöhe südöstlich der Kasseler Innenstadt, ein Einfamilienhaus reiht sich hier ans andere. Im Hintergrund hört man ein ständiges Rauschen, die A7 ist keine hundert Meter Luftlinie entfernt. Das Grundstück ist von einer mannshohen Hecke umgeben.

Am Dienstagmorgen ist Stephan E.s Haus wieder bewohnt, an den zwei Tagen zuvor soll es leer gewesen sein. Zwei Hunde bellen am Gartenzaun, ein Pfiff aus dem Haus bringt sie zum Schweigen. Aber niemand zeigt sich. Im Garten hängt Wäsche zum Trocknen, die Rollläden sind heruntergelassen.

Wo eigentlich die Haustür sein sollte, ist ein großes rotes Brett angebracht, rechts davor liegt zerbröseltes Mauerwerk. Es sind die Spuren des Polizeieinsatzes in der Nacht zu Sonntag. In dem Haus hat E. mit seiner Frau sowie Tochter und Sohn gewohnt, beide im Teenageralter.

Die Nachbarn des Verdächtigen sind seit Montag begehrte Interviewpartner für Journalisten. Was sie berichten, ähnelt dem, was Anwohner anderer Mord- und Terrorverdächtiger in anderen Städten aussagen: haben nichts geahnt, er war unauffällig, so etwas hätte ihm keiner zugetraut. E. sei viel Fahrrad gefahren, frühmorgens noch vor 7 Uhr aus dem Haus, zur Schichtarbeit, oft habe er Blaumann getragen. Ein Nachbar soll sich angeblich mit E. gestritten haben, weil der seinen Garten nicht dauerhaft löwenzahnfrei gehalten haben soll. Das war’s.

Seehofer spricht von der "Stunde der Ermittler"

Am Dienstagmittag, 350 Kilometer nordöstlich in Berlin, sitzt Bundesinnenminister Horst Seehofer auf einem Podium und sagt: Jetzt sei „die Stunde der Ermittler“.

Der 45 Jahre alte, fahrradfahrende und das Unkraut wachsen lassende Stephan E., der den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke getötet haben soll, wirkt nämlich auch wie ein Intensivtäter. Nach Recherchen des Tagesspiegels sind im Bundeszentralregister bis zum Jahr 2010 insgesamt sieben Urteile von Gerichten in Hessen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen gespeichert, die ihn betreffen.

Haben E.s Nachbarn, hat der Staat nur nicht genau hingeschaut? Und hätten sie genauer hingeschaut, hätte es in E.s Leben überhaupt etwas zu entdecken gegeben, was Argwohn auslösen könnte?

Der erste Eintrag stammt aus dem Jahr 1993. Das Amtsgericht Wiesbaden verurteilt Stephan E. wegen Diebstahls zu einer Jugendstrafe von zehn Monaten auf Bewährung. Die Haft bleibt dem damals knapp 20-jährigen Mann erspart.

Die Rohrbombe explodierte nicht

Das ändert sich 1995. Das Landgericht Wiesbaden verhängt sechs Jahre Jugendstrafe gegen Stephan E. Es geht um schwere Delikte: versuchter Totschlag, eine Messerstecherei und das „versuchte Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion“. Im Dezember 1993 hatte Stephan E. einen Bombenanschlag auf eine Unterkunft von Asylbewerbern bei Wiesbaden vorbereitet. Die Flüchtlinge entgingen jedoch knapp einer Katastrophe. Zwischen den Wohncontainern brannte ein Auto, doch die von E. auf der Rückbank deponierte Rohrbombe explodierte nicht.

Innenminister Seehofer, BKA-Präsident Münch und Verfassungsschutzchef Haldenwang bei der Pressekonferenz am Dienstag.
Innenminister Seehofer, BKA-Präsident Münch und Verfassungsschutzchef Haldenwang bei der Pressekonferenz am Dienstag.

© John MacDougall/AFP

2003 Körperverletzung, 2004 Beleidigung, 2005 Körperverletzung, 2006 Waffenbesitz. 2010 folgt der bislang letzte Richterspruch. Das Amtsgericht Dortmund verhängt sieben Monate, allerdings auf Bewährung. Stephan E. hat mit mehreren hundert weiteren Neonazis am 1. Mai 2009 in Dortmund eine Kundgebung des DGB attackiert. Die Rechtsextremisten warfen Steine und schlugen mit Holzlatten auf Polizisten ein.

Aus Sicherheitskreisen heißt es, die sieben Richtersprüche seien nur ein Teil der Realität. Mehrere Verfahren gegen E. seien eingestellt worden. Die Vorwürfe lauteten Brandstiftung, Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Raub.

Doch jetzt, nach fast zehn Jahren Ruhe, plötzlich das Attentat auf Walter Lübcke?

Im Kopf blieb er offenkundig ein Rechtsextremist

Das wirkt wie ein Widerspruch. Doch das biedere Auftreten nach den wilden Jahren in der rechten Szene war offenbar nur Fassade. Im Kopf blieb Stephan E. offenkundig ein Rechtsextremist.

Bei Youtube veröffentlichte er Kommentare mit Hassparolen. Stephan E. habe sich im Internet das Pseudonym „Game Over“ benutzt, heißt es aus Sicherheitskreisen. In einem Kommentar schrieb er 2018, „entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben“.

Es ist ein klassisches Phänomen, dass sich Rechtsextremisten mit zunehmenden Alter von Straßenrandale zurückziehen, dass ein ruhiges Leben mit Familie und Arbeit wichtiger wird als die Gewalt gegen Migranten, Linke und alle anderen, die ins Feindbild passen. Die Generation der rechten Schläger, die gleich nach der Wiedervereinigung vor allem im Osten Flüchtlingsheime angriff, in Hoyerswerda, Rostock und vielen weiteren Orten, hat sich weitgehend ins Private zurückgezogen.

Eine Generation Rechter, ins Private zurückgezogen

Dieses Muster bestätigt auch Stefan Wunsch. Wunsch ist Mitarbeiter beim „Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus und Rassismus“ mit Sitz in Kassel. In der Stadt und im Umland gebe es eine Reihe Rechtsextremer jenseits der 40, die in der Öffentlichkeit kaum noch aggressiv auftreten. „Diese Leute haben sich in den 90er Jahren politisiert, sind durch Gewalttaten aufgefallen, einige haben Haftstrafen abgesessen.“

Dass diese Generation nach außen hin den Rückzug ins Private angetreten habe, vielleicht im Grünen am Ortsrand eine Familie gegründet habe, bedeute aber nicht, dass die Aktivisten ihrer Ideologie abgeschworen haben und aus der Szene ausgestiegen sind. „Es bedeutet lediglich, dass sie gemerkt haben: Sie kommen privat und beruflich nicht voran, wenn sie sich offen als Nazis zu erkennen geben.“

"Aktive und überregional gut vernetzte Neonazi-Strukturen"

Das unauffällige Auftreten dieser gealterten Aktivisten könnte dazu führen, dass man Täter als verwirrte Einzeltäter abtue – „und nicht erkennt, dass es in Kassel militante, aktive und überregional gut vernetzte Neonazi-Strukturen gibt“.

Ein wohl letztes Mal, bei dem E.s Name in staatlichen Papieren auftaucht, ist der Abschlussbericht des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses vom vergangenen Jahr. Es geht um die Vernehmung einer Verfassungsschutzmitarbeiterin im April 2016, „Sachbearbeiterin Rechtsextremismus“ und um „Erkenntnisse zu gewaltbereiten Rechtsextremisten wie Stephan E. in Hessen und deren Verbindungen zu Rechtsextremen in anderen Bundesländern“. Konkrete Informationen, ob E. Kontakte zum Umfeld des NSU hatte, liefert der Bericht nicht.

Ermittler müssen aufklären, wer Walter Lübcke auf seiner Terrasse erschoss.
Ermittler müssen aufklären, wer Walter Lübcke auf seiner Terrasse erschoss.

© Swen Pförtner/AFP

Ob Stephan E. einer der Hassenden war, die im Internet Walter Lübcke beschimpften und den Tod androhten, als der Politiker sich gegen Flüchtlingsfeinde stellte, ist offen. Für denkbar wird gehalten, dass E. den Entschluss zum Anschlag auf Lübcke fasste, als im Februar 2019 die Hetze gegen den Regierungspräsidenten wieder hochkochte. Nach einem Tweet der ehemaligen CDU-Politikerin Erika Steinbach, heute AfD-nah, der auf Lübcke Bezug nahm. Wegen dessen Äußerung vom Oktober 2015, als bei einer Einwohnerversammlung im Kasseler Vorort Lohfelden „Scheiß Staat“ gerufen wurde – Lübcke antwortete damals, sie könnten Deutschland jederzeit verlassen, sollten sie gewisse Werte des Zusammenlebens nicht respektieren.

Ob der Rechtsextremist dann alleine plante, eine Waffe beschaffte und in der Nacht zum 2. Juni ohne Komplizen zur Villa des Politikers schlich, ist unklar. Süddeutsche Zeitung, WDR und NDR berichten am Dienstagabend, die Bundesanwaltschaft gehe Hinweisen nach, dass es mehrere Täter gegeben haben könnte. Dies gehe auf die Aussage eines Zeugen zurück, der in der Tatnacht zwei Autos bemerkt haben will, die in "aggressiver Manier" durch den Ort fuhren.

Er soll jedenfalls Kontakte zur rechtsextremen Terrorgruppe „Combat 18“ gehabt haben. Combat 18 – Kampftruppe Adolf Hitler: Die Zahl 18 steht für AH, den ersten und den achten Buchstaben im Alphabet. Die Gruppierung wurde 1992 in Großbritannien gegründet und gilt als bewaffneter Arm der – in Deutschland im Jahr 2000 verbotenen – Neonazigruppierung „Blood and Honour“.

Sie haben gewarnt. Jetzt ist es Realität

Treffen mit zwei Vorstandsmitgliedern des Vereins „Nachgefragt“, der sich intensiv mit rechten Strukturen in der Kasseler Region beschäftigt. Ihre Namen möchten die beiden nicht in der Zeitung lesen, sie wollen nicht zur Zielscheibe von Nachahmungstätern werden. Es gebe in Kassel schließlich genug Rechtsradikale, die sich berufen fühlen könnten, einen vermeintlichen Willen den Volkes auszuführen und gewaltsam gegen Kritiker vorzugehen.

„Nachgefragt“ hat seit Monaten vor drohender rechtsextremer Gewalt gewarnt. Es sei beklemmend zu sehen, wie diese nun Realität geworden sei. Unter anderem hatte der Verein eine Podiumsdiskussion zum Thema geplant, das Einladungsschreiben liegt vor ihnen auf dem Tisch. Zentrale Frage dabei: Welche Gefahr für das demokratische Gemeinwesen geht aktuell von Combat 18 aus?

Combat 18 soll wieder aktiv sein

Seit einigen Jahren ist die Gruppierung in Deutschland wieder aktiv, so sehr, dass sie wieder wahrnehmbar geworden ist. So erklärte die Bundesregierung im Jahr 2016, dass eine Gruppierung mit dem Namen „Combat 18“ seit 2013 existiere. Und im September 2017 griff die GSG9 ein Dutzend Neonazis an der deutsch-tschechischen Grenze auf, sie kamen von einem Schießtraining in Tschechien zurück. Es soll sich bei ihnen den Behörden zufolge um Combat-18-Mitglieder handeln.

Dass Stephan E. auch als „Teil einer Gruppe oder eines Netzwerks“ gehandelt haben könnte, sagt auch Innenminister Seehofer am Dienstag. In Sicherheitskreisen vermutet man allerdings, E. sei ein Einzeltäter. Der Mann sei schon länger in der rechten Szene nur ein „randständiger Mensch“, heißt es.

Am 13. Juni fand die Trauerfeier für Walter Lübcke statt.
Am 13. Juni fand die Trauerfeier für Walter Lübcke statt.

© Swen Pförtner/Reuter

Bei diesem Typus „einsamer Wolf“ sei schwer vorhersehbar, was passieren könnte, sagen Experten in den Sicherheitsbehörden.

Stephan E. sei dem Bundesamt für Verfassungsschutz bekannt gewesen, sagt dessen Präsident, Thomas Haldenwang, am Dienstag. Doch der Tatverdächtige sei „in den vergangenen Jahren nicht mehr so deutlich in Erscheinung getreten“. Ähnlich äußert sich der neben Haldenwang sitzende Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch. Dennoch hatten beide auf makabre Weise noch Glück im Unglück.

Ein Löschmoratorium hilft nun

Die Daten zu den Straftaten von Stephan E. sind auch heute noch, fast zehn Jahre nach dem letzten Urteil gegen den Rechtsextremisten, in den Informationssystemen von BKA und BfV, gespeichert – obwohl sie mangels weiterer Vorfälle längst aus datenschutzrechtlichen Gründen hätten eliminiert werden müssen. Verhindert hat das ausgerechnet die Terrorzelle NSU. Denn damals, nach dessen Auffliegen, als sich Sicherheitsbehörden massiven Vorwürfen ausgesetzt sahen, versprachen BKA und BfV Aufklärung und starteten, wie es Münch formuliert, ein „Löschmoratorium“. Die bei den Behörden vorhandenen Daten über Rechtsextremisten bleiben erhalten.

Welche Erkenntnisse sich nun ergeben, können Münch und Haldenwang am Dienstag noch nicht sagen. Die Festnahme des Rechtsextremisten ist erst drei Tage her. Dennoch klingt in den Fragen mancher Journalisten schon der Vorwurf mit, wie einst bei NSU hätten die Behörden auch im Fall Lübcke mal wieder versagt.

Der Vorwurf wirkt zumindest verfrüht. Und die Behörden, die Bundesanwaltschaft eingeschlossen, können auf Fortschritte bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus verweisen. Im November 2012 wurde in Köln das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) eingerichtet. Vertreter von 40 Behörden aus Polizei, Nachrichtendiensten und Justiz kommen regelmäßig zusammen, um sich über die Bekämpfung extremistischer Umtriebe auszutauschen. Was in Mecklenburg-Vorpommern passiert, bleibt Bayern und dem Rest der Republik nicht verborgen. Die rechtsextreme Gefahr ist im GETZ einer der Schwerpunkte.

An wen der Halitplatz in Kassel erinnert, wissen nur wenige Passanten.
An wen der Halitplatz in Kassel erinnert, wissen nur wenige Passanten.

© Sebastian Leber

Kassel ist auch ein NSU-Tatort. In der Nähe des Orts, an dem im August 2006 Halit Yozgat erschossen wurde, zehn Gehminuten nordöstlich des Hauptbahnhofs an einer der Hauptverkehrsstraßen Kassels, hat die Stadt einen kleinen Platz nach dem Opfer benannt: den Halitplatz. In dessen Mitte steht ein Gedenkstein, ein paar vertrocknete Blumen liegen davor, sie müssen hier seit Wochen liegen. Oben auf dem Stein ist eine Plakette angebracht, darauf stehen die Namen sämtlicher NSU-Opfer, und außerdem: „Wir sind bestürzt und beschämt, dass diese terroristischen Gewalttaten über Jahre nicht als das erkannt wurden, was sie waren: Morde aus Menschenverachtung. Wir sagen: Nie wieder!“

Die meisten Menschen, die an diesem Platz vorbeikommen, wissen nicht, wer Halit Yozgat war. Der Mann vom Falafelladen schräg gegenüber sagt, er habe gehört, hier ganz in der Nähe sei ein Verbrechen passiert, das müsse aber ewig her sein, lange bevor er selbst nach Deutschland kam. Ein Jugendlicher aus der Nachbarschaft sagt, der Platz solle an irgendeinen Mord erinnern, der während des Weltkriegs geschah.

"Zugang zu Waffen hatte er nie"

Etwas die Straße hoch steht das Haus, in dem sich Halit Yozgats Internetcafé befand. Holländische Straße, Hausnummer 82. Die Fassade ist bunt bemalt, mit fliegenden Bienen und Waben aus Gold. Über dem Schaufenster steht: „Kasseler Stadthonig. Imkerei & Manufaktur Victor Hernandez“. Hinterm Schaufenster und der Eingangstür zwei Schilder: „Geschlossen gegen Ausgrenzung“, steht auf einem, „Offen für Vielfalt“ auf dem anderen.

Ein Anruf bei Reiner Weidemann, 1. Vorsitzender des Schützenclub 1952 Sandershausen e. V., hinterm nordöstlichen Kasseler Stadtrand gelegen. Ein erschöpft klingender Mann, nach jedem Satz, den er sagt – und er sagt sie alle leise – atmet er tief durch. Seit fast einem Jahrzehnt sei E. Vereinsmitglied gewesen, ein Bogenschütze, „Zugang zu Waffen“ – also Schusswaffen – „hatte er nie“. „Ohne Murren“ habe er bei Arbeiten am Clubhaus mitgeholfen, „hat den Rasen gemäht“, sei freundlich, wirkte wie „ein Durchschnittsbürger“.

Hätte man im Verein von E.s rechtsradikal-krimineller Vergangenheit gewusst, „wir hätten ihn nicht aufgenommen. Ich wünschte, wir bekämen da mehr Einsicht“ in Akten, „aber da fehlen einem Verein die Möglichkeiten“ – und der entsprechende Rechtsanspruch. Falls es nicht von anderen aufgebracht werde: „Ich werde seinen Ausschluss anregen.“ Das Porträtfoto E.s auf der Vereinswebseite ist schon weg.

Ein „bisschen enttäuscht“ sei er, sagt Weidemann noch, „echt enttäuscht“, und er meint das im Wortsinne. „Ich habe ein bisschen Menschenkenntnis.“ Dachte er.

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