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Die Werkstätten der Handwerker in Lichtenberg sind zwar schwer aufzufinden, Laufkundschaft gehört jedoch aber nicht zu ihrer Zielgruppe.

© Kitty Kleist-Heinrich

Radfahren-Magazin 2019: Das Valley der Velos

Von Lichtenberg aus erstreckt sich ein Netzwerk von Handwerkern, die einzigartige Räder mit allem Drum und Dran herstellen.

Die Josef-Orlopp-Straße in Berlin-Lichtenberg ist das Gegenteil von hip. Unspektakulär gruppieren sich hier flache Zweckbauten und unrenovierte Wohnhäuser um Grundstücksbrachen und rumpelige Parkplätze. Doch genau diese unspektakuläre Straße ist für Freunde besonderer Velos eine angesagte Adresse. Wenn auch eine gut versteckte. Hier haben Thomas Becker, Florian Häußler und Kristin Heil ihre Werkstätten. Um diese zu finden, müssen Besucher über das Nachbargrundstück den Gewerbehof betreten, sich den Weg zwischen Altbauten bahnen und am Ende des Hofs in den zweiten Stock eines teilweise leer stehenden Fabrikgebäudes steigen.

"Wir stehen nicht in direkter Konkurrenz, wir ergänzen uns sehr gut"

Becker und Häußler bauen Rahmen und komplette Fahrräder, Heil näht Taschen für Velos. "Wir haben jeweils unseren eigenen Stil", erläutert Becker, "stehen also nicht in direkter Konkurrenz, sondern ergänzen uns sehr gut." Deshalb teilen die Konstrukteure Räume, Maschinen und Werkzeuge miteinander: eine Adresse, zwei Marken. Unter dem Label Meerglas baut Becker klassische Randonneure, Rennräder für lange Strecken mit Gepäck. Hinzu kommen andere Reise- und Bahnräder. Interessenten finden meist über persönliche Empfehlungen in die Werkstatt. Am Anfang steht ein ausführliches Gespräch, in dem sie berichten, welche Art von Touren sie mit dem neuen Rad planen. "Indem ich auf die Wünsche der Kunden eingehe, wird jedes Rad ein individuelles, maßgefertigtes Einzelstück", sagt Becker. Auf diese Weise arbeitet auch Häußler, der mit Fern Fahrräder ebenfalls Reisefahrzeuge entwickelt. Im Unterschied zu den klassisch anmutenden Meerglas-Modellen haben seine Velos einen moderneren, reduzierteren Look.

Drei aus Josef-Orlopp-Straße: Florian Häußler (l.) und Thomas Becker bauen Fahrräder und Rahmen, Kristin Heil näht Velo-Taschen.
Drei aus Josef-Orlopp-Straße: Florian Häußler (l.) und Thomas Becker bauen Fahrräder und Rahmen, Kristin Heil näht Velo-Taschen.

© Kitty Kleist-Heinrich

An den Rahmenbau haben beide sich über ihre Leidenschaft für Radwanderungen herangestrampelt. Becker legte allein auf einer Tour nach Südostasien mehr als 13 000 Kilometer zurück. Häußler hat auf einer Reise nach Istanbul "jede Menge Erfahrungen gesammelt, was man bei einer langen Tour auf dem Sattel alles besser machen kann". Auf Radreisen weltweit wuchs sein Wissen, welches Rad unterwegs für ihn das beste wäre. So entstand im Laufe einiger Jahre der Wunsch, das perfekte Herzstück fürs Reiserad selbst zu konstruieren und zu bauen. Leidenschaft hatten beide, und das Know-how eigneten sie sich an: Becker wagte nach sechs Semestern Maschinenbaustudium den Schritt von der Theorie in die Praxis: zweieinhalb Jahre Lehre zum Zweirad­mechaniker bei Pedalpower in Lichtenberg. Das Unternehmen sollte sich als Keimzelle einer Gruppe junger Gründer entpuppen, die dem Fahrrad ihren eigenen Dreh geben. Doch dazu später mehr.

Rahmenbauer ist kein Ausbildungsberuf

Dass Häußler schon mitten im Studium für Produktdesign steckte, passte jedenfalls schon mal ganz gut zu seinen Plänen, Reiseräder zu bauen. Und noch besser: In seiner Abschlussarbeit entwarf er ein Reiserad. "Aber das ist alles ausschließlich pure Theorie gewesen. Was mir bis dahin fehlte, waren praktische Kenntnisse und Erfahrungen."

Rahmenbauer für Fahrräder ist kein Ausbildungsberuf. "Es gibt eine Reihe von Freaks in Deutschland, die das handwerklich betreiben, die habe ich abgeklappert. Aber an Praktikanten, Typen wie mich, hatten sie keinen Bedarf." So standen noch ein paar Umwege an. Häußler machte eine Schweißerlehre und hat bei Rotor Bikes in Leipzig fertige Rahmen aufgebaut. "Das Rahmenbauhandwerk habe ich mir später autodidaktisch beigebracht."

In Leipzig lernten Taschenmacherin Kristin Heil und Flo Häußler sich kennen, was zur Gründung von Gramm Tourpacking führte. Genäht hatte Heil schon immer gerne, ihr Modedesignstudium bestärkte sie darin. Nun kam noch der Fokus auf Velos dazu - und damit auf Taschen, die Reiseradler benötigen: "Nach dem Examen machte ich Urlaub auf Kreta, wo ich die ersten selbst entworfenen Modelle ausprobierte." Ihre Kollektion kann auch an Rädern befestigt werden, die keinen Gepäckträger haben. Die Taschen werden unter dem Sattel oder im Rahmendreieck befestigt. "Jede Lücke im Rahmen kann genutzt werden", so Heil. Spezielle Zuschnitte für maßangefertigte Rahmen hat sie neben den Standardmodellen auch im Programm. Becker, Häußler und Heil in der Josef-Orlopp-Straße bilden so etwas wie das Zentrum eines lockeren und informellen Netzwerks in und um Lichtenberg. Ihre Leidenschaft für Fahrräder verbindet sie, vor allem das Ziel, einzigartige Velos mit allem Drum und Dran herzustellen.

Unter dem Firmennamen lackiert Robert Schmidt Rahmen und Gabeln, auf denen er mit viel Liebe zum Detail auch die Nähte nachzeichnet.
Unter dem Firmennamen lackiert Robert Schmidt Rahmen und Gabeln, auf denen er mit viel Liebe zum Detail auch die Nähte nachzeichnet.

© Kitty Kleist-Heinrich

In der Herzbergstraße, nur ein paar Hundert Meter entfernt, hat zum Beispiel Robert Schmidt seine Werkstatt. Unter dem Label Velociao lackiert er dort die Rahmen von Meerglas, Fern Fahrräder und weiteren Akteuren. "Dass ich ausgerechnet bei Tom und Flo um die Ecke Räume gefunden habe, war Zufall", sagt Schmidt. Auch ihn muss man suchen. Seine Lackiererei ist in einem kleinen Gebäude im hinteren Teil einer ehemaligen Margarinefabrik untergebracht, einst das Kesselhaus mit der Heizungsanlage für das ganze Areal, heute unter Denkmalschutz. Ein McGregor-Trikot aus den 1970ern an der Wand verrät, dass Schmidt Radsportfan ist. "Ich fahre auch selber auf der Bahn", berichtet der ehemalige Programmierer, der zudem historische Rennräder sammelt. Zum Lackieren kam er über Grafikgestaltung, unter anderem für Autos und Motorräder. Schmidt lackiert nass - nicht nur neue Rahmen, sondern auch alte Velos. Wenn der Einsatz von Lack an seine Grenzen stößt, arbeitet er mit Drucktechnik und klebt etwa die Embleme alter Marken auf die neu lackierten Rahmen.

In direkter Nachbarschaft, wieder auf der Josef-Orlopp-Straße, hat David Bujanowski seine Werkstatt. Als Radreisenden hat es ihn bis nach Japan verschlagen. Vor drei Jahren begann der studierte Architekt schrittweise umzusatteln: "Seitdem baue ich im Zweitjob Fahrradrahmen."

Seine Marke Hinoki - benannt nach einer japanischen Tanne - steht am Anfang. Seine Website befindet sich noch im Aufbau. In diesem Jahr soll es das erste Mal auf eine Messe gehen. Bujanowskis bisherige Kunden kamen über persönliche Kontakte. Und nach detaillierter Wegbeschreibung: Um zur Hinoki-Werkstatt zu kommen, muss man eine Tischlerei durchqueren, deren unauffälliger Eingang sich in einem weitläufigen Gewerbehof befindet. Bujanowski kannte Tom Becker schon, bevor er hier einzog. "Aber es war Zufall, dass ich direkt hier gelandet bin."

Zentrum der Szene. Die Werkstatt von Fern Fahrräder.
Zentrum der Szene. Die Werkstatt von Fern Fahrräder.

© Kitty Kleist-Heinrich

Zum erweiterten Lichtenberger Netzwerk gehört auch der Rahmenbauer Niccolò Bonanno. Er hat sich früher mit Tom Becker eine Werkstatt im Lichtenberger Kiez geteilt, "eine absurd große Halle, ohne Heizung, Küche und Bad." Dann zog er um. Die neue Adresse seiner Marke Cicli Bonanno ist nun in Kreuzberg, direkt am Görlitzer Park. "Der Draht nach Lichtenberg ist nicht abgebrochen", betont der gebürtige Mailänder. Seit vier Jahren entwirft er in Berlin minimalistische Rahmen für sportliche Vielradler. Er setzt auf oversized Rohre und Scheibenbremsen, weil die Velos viel aushalten sollen. Wie bei den anderen Jungs ist deshalb Stahl sein bevorzugtes Material. Bonanno kennt die Szene in Italien ebenso gut wie hier: "In Berlin tut sich ähnlich viel wie in Mailand, einem Hotspot des Radsports, aber hier sind die Leute enger vernetzt, sehen sich weniger als Konkurrenten."

Lucas Bachmanns Räder transportieren Ladungen bis zu 120 Kilo

Robuste Fahrzeuge schweißt auch Lucas Bachmann zusammen. In seiner Werkstatt an der Rummelsburger Bucht fertigt der 28-Jährige Lastenräder komplett von Hand. Die Räder aus Luc's Lastenradschmiede transportieren Ladungen bis zu 120 Kilo und lassen sich dank kleinem Wendekreis sicher durch die Stadt navigieren. Damit die Velos in Übergröße nicht im Verkehr steckenbleiben, sind die Konstruktionen maximal 1,14 Meter breit und passen somit durch die Poller, die in Berlin üblicherweise 1,20 Meter auseinanderstehen.

Das hält. Daniel Vogel-Essex von der Ozon Cyclery baut Fahrradrahmen aus Bambus.
Das hält. Daniel Vogel-Essex von der Ozon Cyclery baut Fahrradrahmen aus Bambus.

© Kitty Kleist-Heinrich

Eine ganz andere Richtung schlagen Daniel Vogel-Essex und Tobias Rudolph ein: Sie setzen auf das nachwachsende Material Holz. Die gelernten Industriedesigner sind mit ihren Marken Ozon Cyclery und NaturRad Teil der B. L. O. Ateliers, einer Künstlergemeinschaft von etwa 100 Personen, die auf dem Gelände des ehemaligen Bahnbetriebswerks Berlin-Lichtenberg-Ost arbeiten. "Anfangs hatten wir eine gemeinsame Werkstatt, bis ich mich dann mit Ozon Cyclery auf Workshops für den Bau von Bambusrädern konzentriert habe", erzählt Vogel-Essex. Direkt nebenan baut Rudolph in seiner Werkstatt Holzräder. Man kann bei ihm auch Einzelteile aus Holz kaufen, Lenker etwa. Beide kooperieren nach wie vor eng miteinander - und stehen auch in Kontakt mit den anderen. "Tom lernte ich kennen, als er noch bei Pedalpower war und ich mir dort regelmäßig Werkzeug lieh", erinnert Vogel-Essex sich grinsend. "Meine erste Begegnung mit Flo hatte ich auf einer Messe, mit einem Stand direkt neben seinem."

In größerer Runde treffen sich die Freunde des Fahrrads immer wieder einmal, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen und gegenseitig Tipps zu geben. Mit ihrem geballten Know-how machen sie Lichtenberg zu einem Valley der Velos. Wenn auch für Außenstehende weitgehend unbemerkt, denn ihre Werkstätten sind allesamt gut verborgen.

Lars Klaaßen

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