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Schneeballeffekt. Die Bewegung Pulse of Europe begann in Frankfurt am Main. Jetzt ist sie europaweit auf den Straßen.

© Manfred Thomas

Pulse of Europe: Die Macher der Bewegung

Gegen Populisten, für ein starkes Europa: Pulse of Europe bringt Zehntausende auf die Straße. Wer steht hinter dem Protest?

Sie hätte nie gedacht, dass sie mal regelmäßig auf die Straße gehen würde. Eigentlich hat Stephanie Hartung gar keine Zeit zum Demonstrieren. Die 49-Jährige ist Juniorpartnerin in einer Frankfurter Anwaltskanzlei und Mutter zweier Kinder. Doch seit einigen Wochen hat sie ihr Schlafpensum spürbar reduziert, auf vier bis fünf Stunden pro Nacht. „Ich habe das Gefühl, gerade das Richtige zu tun“, sagt sie. Hartung gehört zu den Mitbegründern von Pulse of Europe, der pro-europäischen Bürgerbewegung, die seit Jahresbeginn Sonntag für Sonntag mehr Menschen auf die Straße lockt. Anfangs in Frankfurt am Main, inzwischen europaweit.

Pulse of Europe will den „destruktiven und zerstörerischen Stimmen“ in Europa etwas entgegensetzen und die Menschen auf die Straße bringen, die für die Idee eines vereinten Europas einstehen. Das sei die Mehrheit der Bevölkerung, sind die Organisatoren überzeugt. „Der europäische Pulsschlag muss wieder spürbar werden“, fordern sie. In Deutschland finden die Kundgebungen mittlerweile in mehr als 50 Städten statt, wöchentlich kommen neue dazu. Der Funke ist auch anderswo übergesprungen: In zehn weiteren Ländern ist Pulse of Europe am Start, in Städten wie Lissabon, Paris oder Stockholm. Am vergangenen Sonntag waren nach Schätzungen der Veranstalter mehr als 40.000 Menschen unterwegs.

Gesteuert wird das Netzwerk aus Frankfurt. Die Idee dazu hatte das Ehepaar Sabine und Daniel Röder. Nach Brexit und US-Wahl beschlossen die beiden Anwälte, nicht tatenlos zuzusehen, wie Marine Le Pen womöglich zur französischen Präsidentin gewählt würde. Daniel Röder schickte eine Rundmail an Freunde und Bekannte, um zu testen, wie viele Menschen sich für Europa begeistern ließen. An einem verregneten Novembertag trafen sich im Frankfurter Europaviertel etwa 150 Menschen zu einer ersten improvisierten Kundgebung. Sie bestärkte Röder darin, weiterzumachen. Über den Jahreswechsel gründete er mit einigen Mitstreitern den Verein Pulse of Europe, gemeinsam formulierten sie in zehn Thesen das Grundgerüst der Bewegung. Am 15. Januar starteten die wöchentlichen Kundgebungen auf dem Goetheplatz, immer mittags um 14 Uhr, auf eine Stunde begrenzt.

Die Bewegung hat sich inzwischen verselbstständigt

Während die Ausbreitung von Pulse of Europe ganz am Anfang vor allem über persönliche Kontakte des Frankfurter Teams in andere Städte zustande kam, hat sich die Bewegung inzwischen verselbstständigt. Von überall melden sich Menschen, die in ihrer Heimatstadt einen Standort gründen oder einfach nur mithelfen wollen. Hartung spricht von einem „Schneeballeffekt“. Rund 500 Mails am Tag trudeln derzeit bei Pulse of Europe ein. „Das Thema trifft einen Nerv“, sagt Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung. Das liege daran, dass Europa sich momentan in einer aktuellen Bedrohungssituation befinde. „Das Europa, wie wir es kennen, steht auf der Kippe. Bei vielen Menschen weckt das ein Bedürfnis, sich zu positionieren“, sagt der Sozialwissenschaftler.

Vielleicht liegt der Erfolg auch darin, dass viele es attraktiv finden, für und nicht gegen etwas auf die Straße zu gehen. Pulse of Europe zieht jedenfalls nicht nur ein klassisches Protestpublikum an. „Zu uns kommen viele, die noch nie demonstrieren waren“, sagt Carola Vulpius. Die 53-jährige Richterin hat in Dresden Pulse of Europe mit ins Leben gerufen. In der Stadt, in der montags Pegida-Anhänger durch die Straßen marschieren, treffen sich nun sonntags vor der Frauenkirche überzeugte Europäer. So wie Vulpius selbst: Die promovierte Juristin war während ihres Studiums ein Jahr in Oxford. „Ich kann mir mein Leben gar nicht anders vorstellen als in einem vereinten Europa“, sagt sie.

Dass Bessergebildete oder Besserverdienende zu Demonstrationen gingen, sei nicht ungewöhnlich, sagt Protestforscher Teune. Aber anders als bei den meisten Protesten seien hier auch ältere liberale und konservative Menschen zu finden. „Da demonstriert die Generation, der bewusst ist, dass die Gründung Europas nach dem Krieg ein Schritt nach vorne war“, sagt Teune. In Berlin gehört Michael Scharfschwerdt zu dem Team, das die Veranstaltungen auf dem Gendarmenmarkt organisiert. Der 42-Jährige ist Kommunikationschef einer Unternehmensberatung, lange war er Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa bei den Grünen. Im Berliner Organisationsteam seien Parteibücher von der Linkspartei bis zur CDU vertreten, berichtet er. Ähnlich schätzt er auch das politische Spektrum auf dem Platz ein.

Immer mehr Abgeordnete veröffentlichen Fotos von ihrem Besuch

Inzwischen gehört es auch bei pro-europäischen Politikern zum guten Ton, sich auf den Demos blicken zu lassen. Die Zahl der Abgeordneten, die auf Twitter oder Facebook Fotos von ihrem Besuch veröffentlichen, steigt wöchentlich. Im Bundestag lobten neulich Grünen-Chef Cem Özdemir und SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann die Bewegung, ebenso wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Antrittsrede.

Doch vereinnahmen lassen wollen sich die Pulse-Of-Europe-Macher nicht. Deshalb achten sie auch darauf, dass auf den Kundgebungen die Mikrophone den Bürgern offen stehen. „Wir wollen kein charmantes Netzwerk für Politiker sein“, sagt Mitbegründerin Hartung. Es habe schon etliche Anfragen von Bürgermeistern gegeben, die gerne in ihrer Stadt eine Kundgebung als Teil der Bewegung Pulse of Europe organisieren würden. Das habe man aber abgelehnt. Natürlich stehe es jedem Politiker frei, als Bürger zu den Veranstaltungen zu kommen. „Aber wir sind eine Bewegung von unten“, sagt Hartung. Auch Scharfschwerdt betont: „Parteipolitik spielt bei uns keine Rolle.“

Das Angebot der EU-Kommission, Ballons und Fahnen zu spenden, hat Pulse of Europe abgelehnt, um sich nicht angreifbar zu machen. In Dresden streckten die Organisatoren ebenso wie an anderen Standorten die Kosten für die ersten Versammlungen vor. Für den Lkw und die Technik, für die Musikgruppe und für Europa-Fahnen, die verteilt werden. „Auf jeder Veranstaltung sammeln wir Spenden ein“, berichtet Organisatorin Vulpius.

Das rasante Wachstum fordert vor allem das Team in Frankfurt, bei dem die Fäden zusammenlaufen. Wer in einer neuen Stadt aktiv werden will, bekommt einen Leitfaden mit praktischen Tipps, etwa zum Anmelden einer Veranstaltung. In wöchentlichen Telefonkonferenzen werden die Aktionen der Standorte koordiniert. Derzeit wird in Frankfurt eine Geschäftsstelle aufgebaut. Bisher kündigt Pulse of Europe an, bis zur französischen Präsidentschaftswahl im Mai durchhalten zu wollen. Und danach? „Wir schauen gerade, was wir aus all der positiven Energie machen können. Und auch machen müssen“, sagt Hartung.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 28. März 2017 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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