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Der russische Präsident Putin bei einer Pressekonferenz in Moskau.

© Mikhail Klimentyev / Sputnik / AFP

Zynisches Kalkül in der Ukraine: Wen Putins Vorgehen überrascht, der hat nicht richtig aufgepasst

Der Westen steht vor den Scherben seiner Russlandpolitik. Doch wer überrascht ist, war in den vergangenen Jahren nicht aufmerksam. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Claudia von Salzen

Der 22. Februar 2022 und der Weg dorthin werden in die Geschichtsbücher eingehen. Russlands Präsident Wladimir Putin hat noch in der Nacht die Entsendung von Truppen in das Staatsgebiet der Ukraine gebilligt und damit die europäische Friedensordnung aus den Angeln gehoben.

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Die Tagung des russischen Sicherheitsrates am Montag vor laufenden Kameras, die Bitte der Separatistenführer um Anerkennung der Gebiete, die Unterzeichnung der entsprechenden Erlasse durch Putin und schließlich die fast einstündige Wut-Rede des Präsidenten – dieses groteske Schauspiel war sorgfältig choreografiert und seit langer Zeit geplant.

Als vor einer Woche Bundeskanzler Olaf Scholz im Kreml mit Putin über Krieg und Frieden sprach, hatte sich der russische Staatschef offenbar bereits entschieden. Am selben Tag forderten die Abgeordneten der Staatsduma den Präsidenten auf, die selbsternannten "Volksrepubliken" im Donbass anzuerkennen – auch das war ein Teil dieser Inszenierung.

[Lesen Sie hier den Live-Blog zu den Ereignissen in der Ukraine.]

Wer Putin tatsächlich verstehen will, der muss als erstes begreifen, dass der russische Staatschef in den vergangenen Wochen Gesprächsbereitschaft nur vortäuschte. Dabei hätte es wie so oft bei Putin gereicht, sehr genau hinzuhören. Im vergangenen Sommer hat er in einem langen Aufsatz historisch zu begründen versucht, warum die Ukraine kein eigener Staat sei, warum Russen und Ukrainer in Wirklichkeit "ein Volk" seien. Putin hat das Ende der Sowjetunion einmal als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Doch diejenigen, die seit Jahren warnen, er wolle diesen Schritt zumindest teilweise rückgängig machen, wurden gerade in Deutschland nicht ernst genommen.

Der Aufmarsch begann, als die Pipeline fertiggestellt war

Die Bundesregierung steht nun vor den Scherben einer Russlandpolitik, die auch nach der Annexion der Krim und der russischen Intervention in der Ostukraine gebetsmühlenartig auf "Dialog" und "Gesprächskanäle" setzte.

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Es waren Deutsche und Franzosen, die 2014 und 2015 die Minsker Vereinbarungen vermittelten und auch dann noch krampfhaft an diesen Abkommen festhielten, als längst klar war, dass diese keinen Frieden bringen könnten. Nur ein Jahr nach der Krim-Annexion gab die Bundesregierung grünes Licht für das Projekt Nord Stream 2 und ignorierte, dass diese Pipeline zum Werkzeug von Putins geopolitischen Interessen werden konnte.

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Der Truppenaufmarsch an den Grenzen der Ukraine begann, als die Pipeline fertiggestellt war und Russland nicht mehr auf die Leitungen durch das Nachbarland angewiesen war. Das ist keineswegs Zufall. Nun konnte Putin gegen die Ukraine vorgehen, ohne Rücksicht auf ökonomische Verluste.

Russlands Krieg in der Ostukraine hat nicht erst in der Nacht vom Montag zu Dienstag begonnen. Bereits seit 2014 kämpfen russische Soldaten im Donbass. Zu den Fehlern des Westens gehört auch, dies nicht offen ausgesprochen zu haben. Wer heute von Putins Vorgehen wirklich überrascht ist, hat in den vergangenen acht Jahren nicht richtig aufgepasst.

Ein kleines Sanktionspaket wird nicht reichen

Der Mann im Kreml hatte dagegen zwanzig Jahre lang Zeit, die Schwächen seiner westlichen Partner zu analysieren. Mit dem Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine und den von westlichen Geheimdiensten abgefangenen Äußerungen weckte er Befürchtungen vor einem großen Einmarsch der russischen Armee.

Auf dieses Szenario hat der Westen sich vorbereitet. Aber die Frage, was im Fall einer kleineren russischen Militäraktion gegen die Ukraine zu tun sei, blieb in den vergangenen Wochen leider offen.

Gehörte es zum Kalkül im Kreml, mit einer Abtrennung, Invasion und späteren Annexion der "Volksrepubliken" davonzukommen? Dagegen spricht allerdings Putins Rede vom Montagabend, in der es nur am Rande um den Donbass und in Wirklichkeit um die gesamte Ukraine ging. Ein weiterer militärischer Vormarsch russischer Truppen in der Ukraine ist nicht abgewendet, zumal die von Moskaus Marionetten im Donbass beanspruchten Gebiete deutlich größer sind als ihr derzeitiger Machtbereich.

Ein eher kleines Sanktionspaket wie nach der Annexion der Krim wird dieses Mal nicht reichen. Das Projekt Nord Stream 2 ist zwar vorerst gestoppt, aber noch nicht vom Tisch. Wie der Westen nun auf die Herausforderung durch Putins Russland reagiert, wird ebenfalls in die Geschichtsbücher eingehen.

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