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Der designierte US-Präsident Joe Biden sieht in Amerika eine Ausnahmenation.

© Leah Millis/REUTERS

Zwischen Partner und „Weltenführer“: Wie Joe Biden die Rolle der Weltmacht USA neu erfinden will

Amerika sei eine Ausnahmenation mit Führungsaufgabe - so sehen es Joe Biden und sein Team. Über Geschichte und Gefahren des „Exzeptionalismus“. Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Als Joe Biden am 24. November in seiner Heimatstadt Wilmington Teile seines zukünftigen außenpolitischen Teams vorstellte, sagte er: „America is back, ready to lead the world“ – Amerika ist wieder da, bereit, die Welt anzuführen. Das ist die Ankündigung eines außenpolitischen Paradigmenwechsels. Es ist die Abkehr von Trumps aggressivem Nationalismus. Und es ist die Wiederbelebung der Idee des amerikanischen Exzeptionalismus.

Mit Joe Biden, seinem designierten Außenminister Antony Blinken und seinem zukünftigen Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan kehrt die Idee der amerikanischen Weltenführerschaft zurück in die Außenpolitik, mehr noch: die Idee, dass Amerika unter den Staaten dieser Welt eine besondere Rolle einnimmt und auch einnehmen sollte.

Alle drei Außenpolitiker vertreten den Gedanken, dass Amerika sich fundamental, sozusagen in seinem „nationalen Charakter“, von anderen Ländern unterscheidet, dass das Land außergewöhnlich, also exzeptionell ist und durch diesen „Exzeptionalismus“, so der Fachbegriff, zu einer besonderen Rolle in der Weltpolitik berufen.

Aber woher stammt diese Idee und was bedeutet sie? Aus welcher Phase der amerikanischen Außenpolitik kehren Biden und sein Team zurück? Kann es tatsächlich einen zeitgemäßen, nicht nationalistischen „Exzeptionalismus“ geben?

Antony Blinken, Bidens designierter Außenminister, bei der Vorstellung des außenpolitischen Teams am 24. November in Wilmington.
Antony Blinken, Bidens designierter Außenminister, bei der Vorstellung des außenpolitischen Teams am 24. November in Wilmington.

© CHANDAN KHANNA / AFP

Das Gefühl, eine herausgehobene Nation zu sein, ist tief in der Geschichte und im Selbstverständnis der Vereinigten Staaten verwurzelt. Das Land war die erste Demokratie und die erste Republik der Welt. Die Siedler, die Gründerväter und die frühen Präsidenten sahen sich als Pioniere, nicht nur im geografischen Sinne, sondern auch als Pioniere der Utopie von Freiheit und Gleichheit.

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Von Anfang an war der Gedanke stark mit der Idee einer Mission verbunden. Schon das frühe Amerika verstand sich als „beacon“, als Leuchtturm, der ausstrahlt in die Nacht der europäischen Rückständigkeit. „Diese einzige Republik“, schrieb Thomas Jefferson 1809, „(…) dieser einzige Verwahrungsort des heiligen Feuers von Freiheit und Selbstbestimmung, soll fortan in anderen Regionen der Welt entzündet werden (…).“

Diese Idee einer amerikanischen Mission für ein menschliches Naturrecht auf Freiheit und Gleichheit in der Welt zieht sich durch bis in die Gegenwart, inklusive des Bildes von Feuer und Licht. Barack Obama sprach in seiner ersten Antrittsrede als Präsident 2009 von dem „gottgegebenen Versprechen, dass alle frei, alle gleich sind“, ein Versprechen, dass die Gründerväter durchgesetzt hätten, und „ein Statut, das mit dem Blut von Generationen verbreitet wurde. Diese Ideale erhellen die Welt noch immer, und wir werden sie nicht aus Eigennutz aufgeben“.

Schon immer war das Gefühl des "Auserwähltseins" auch religiös begründet

Verbunden war der Gedanke historisch auch mit religiösen Motiven. Die Siedler – viele von ihnen auch auf der Suche nach Religionsfreiheit – sahen ihr Land und ihre Lebensweise als von Gott herausgehoben. Die religiöse Mission, andere auf den „richtigen“ Weg zu führen, verstärkte die politische. Später kamen andere Faktoren hinzu, die das Gefühl der Einzigartigkeit weiterführten: die Geografie, die Bevölkerungszahl, der Reichtum.

Skeptiker amerikanischer Außenpolitik unterstellen den USA auch wegen dieser Faktoren eine aus ökonomischer Selbstsucht getriebene Außenpolitik. Im Nahen Osten, so ein beliebter Topos, wollten „die Amis“ doch nur das Öl. Tatsächlich trägt der amerikanische Exzeptionalismus bis hin zu Obama beinahe transzendente Begründungen in die amerikanische Außenpolitik.

Immer wieder zeigte sich die dunkle Seite des amerikanischen Exzeptionalismus

Schon immer hatte die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus aber auch dunkle Seiten. Der „Krieg gegen den Terror“ nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zeigte die Ambivalenz. George W. Bush nutzte das Motiv einer amerikanischen Ausnahmestellung als Freifahrtschein für den Irakkrieg, ein Krieg des auserwählten und per se „Guten“ gegen die „Achse des Bösen“, gemeint waren Iran, Irak, Nordkorea.

Das religiöse Fundament der Idee kann leicht zu einem alttestamentarischen Rachegedanken degenerieren. Die Nahostpolitik des Evangelikalen George W. Bush war von religiösen Motiven getragen. Bushs Feldzüge in Afghanistan und dem Irak wurden damit gerechtfertigt, dass sie zukünftige Terroranschläge verhindern sollten – sie befriedigten aber auch den gerechten Zorn der von Gott auserwählten Nation nach den Angriffen des 11. September. Das Motiv des gerechten Zorns leitete gelegentlich auch Trumps Außenpolitik, der zwar selbst nicht religiös ist, aber mit allen Mitteln versuchte, den evangelikalen Wählern zu gefallen („I am the chosen one“ – Ich bin der Auserwählte, behauptete Trump 2019). Seine Handelspolitik gegen China wurde als „Strafe“ erzählt, ebenso wie die Luftschläge auf syrische Militärbasen nach Giftgasanschlägen des Assad-Regimes.

Die "auserwählte Nation" lehnte Partnerschaften und Zusammenarbeit oft ab

Historisch verbunden ist der Exzeptionalismus auch mit der Ablehnung der Zusammenarbeit mit anderen Staaten. Schon George W. Bush hat Klimaverträge in die Tonne getreten (er erklärte das Kyoto-Protokoll für tot), gegen den Internationalen Strafgerichtshof gekämpft und Abrüstungsverträge demoliert.

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Trump tat es ihm nach, war dabei aber noch stärker von nationalistischen Gedanken getrieben. Das Motiv, Amerika müsse das Licht von Freiheit und Gleichheit in die Welt tragen, verebbte mit seinem Amtsantritt in der außenpolitischen Rhetorik. In seiner Antrittsrede sagte Trump, seit Jahrzehnten habe Amerika die Grenzen anderer Nationen verteidigt, aber seine eigene vernachlässigt und Billionen von Dollar im Ausland ausgegeben, während zu Hause die Infrastruktur zerfalle. „Dieses Massaker an Amerika hört hier auf und hört jetzt auf.“

Das Ende der „endlosen Kriege“, das Erbe von Bushs „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan und im Irak, war einer von Trumps erfolgreichsten Slogans. Auch deshalb versucht der Noch-Präsident, mit Blick auf eine mögliche zweite Amtszeit ab 2025 jetzt noch die versprochene Reduktion der Truppen dort zu vollenden. Im Wahlkampf 2015/2016 traf Trump damit wahrscheinlich einen Nerv.

Die meisten Amerikaner wünschen sich nach wie vor eine "aktive Rolle" ihres Landes in der Weltpolitik

Das Chicago Council of Global Affairs, eine unabhängige Denkfabrik, fragt in einer repräsentativen Umfrage jedes Jahr, ob Amerika eine „aktive Rolle im Weltgeschehen“ spielen oder sich „heraushalten“ sollte. In den Jahren kurz vor Trumps Amtsantritt lagen die Werte mit 58 und dann 64 Prozent für eine „aktive Rolle“ vergleichsweise niedrig. Sie stiegen zwar 2018 zur Mitte seiner Amtszeit auf einen neuen Höchstwert seit dem 11. September 2001 (70 Prozent), dennoch bleibt eine große Skepsis vor allem gegen ein militärisches Engagement Amerikas in der Welt.

[Mehr zum Thema: Es wird immer einsamer um ihn - verlassen jetzt auch die letzten Getreuen Trump?]

Wie der Politikwissenschaftler Charles Kupchan kürzlich feststellte: Die Ablehnung unbegrenzter Kriege ist Mainstream geworden und Teil des Parteiprogramms der Demokraten. Auch die Idee einer amerikanischen Ausnahmestellung wird von immer weniger Menschen geteilt. Nur noch 54 der Amerikaner stimmen laut Chicago Council der Aussage zu, ihr Land sei im Vergleich zu anderen Ländern „einzigartig“ und „das beste Land der Welt“. 2012 waren es noch mehr als 70 Prozent. Der Rückgang geht vor allem auf demokratische Wähler zurück – wahrscheinlich wird der Gedanke mit Trumps Nationalismus und Superlativsucht assoziiert.

Wie ein moderner, progressiver Exzeptionalismus laut Jake Sullivan aussehen könnte

In dieser Stimmung also wollen Biden, Blinken und Sullivan die Idee einer besonderen Verantwortung Amerikas in der Welt wiederbeleben.

Amerika, so sehen es Biden und Co, ist in der Welt eine „Indispensable Nation“ – eine unersetzbare Nation. Der Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch Schriften, Reden und außenpolitische Positionen. Joe Biden schrieb zum Beispiel zuletzt 2019 in einem Essay für „Foreign Affairs“, noch mitten im Vorwahlkampf der Demokraten: „Als Nation müssen wir die Welt überzeugen, dass wir bereit sind, wieder zu führen.“ Wenn Amerika diese Rolle nicht übernehme, werde China es tun, schreibt Biden – oder, „noch schlimmer“, es gebe Chaos. Als Präsident werde er Amerika wieder „am Kopfende des Tisches platzieren“.

Eine Außenpolitik für die Mittelschicht, "Soft Power" und internationale Zusammenarbeit - am Kopfende des Tisches

Bidens designierter Außenminister Antony Blinken verglich die Rolle Amerikas in einer Rede von 2015 einmal mit jener, die James Stewart in dem Filmklassiker „It’s a wonderful life“ spielt. Darin ist Stewart George Bailey ein braver Amerikaner, der immer alle Anforderungen und Erwartungen erfüllt hat, die an ihn gestellt wurden, und dabei im Laufe seines Lebens viele persönliche Opfer gebracht hat. Zu Beginn des Films ist Bailey lebensmüde – erfährt aber dann durch einen Engel (Achtung: göttliche Fügung), wie schrecklich das Leben seiner Familie und seiner Stadt gewesen wäre, hätte er nicht existiert. „Ich glaube, es ist offensichtlich, wo die Welt bei allen diesen Herausführungen stünde, hätte es Amerika nicht gegeben“, so Blinken.

Blinkens Vorstellung von Amerikas Ausnahmerolle in der Welt hat auch im Vergleich zu Biden ein besonders starkes idealistisches Element und ist vom kosmopolitischen Gedanken der gleichen Verantwortung aller für alle geprägt. 2016 trat er in der Sesamstraße auf und erklärte Grobi fast schwärmerisch, warum es gelte, Flüchtlingen zu helfen und warum alle Menschen gleich sind.

Jake Sullivan, Biden designierter Nationaler Sicherheitsberater.
Jake Sullivan, Biden designierter Nationaler Sicherheitsberater.

© REUTERS/Joshua Roberts

Als er am 24. November von Joe Biden vorgestellt wurde, erinnerte er an seinen Stiefvater, Samuel Pisar, der als Kind den Holocaust überlebte. Pisar, geboren im polnischen Bialystok, entfloh als Kind dem Todesmarsch der Zwangsarbeiterstätte Engelbergtunnel und versteckte sich im Wald. „Dann hörte er ein tiefes, rumpelndes Geräusch“, so Blinken: Ein Panzer mit einer amerikanischen Flagge tauchte auf. So soll die Welt Amerika sehen – als die rettende Kraft aus dem Nichts im dunkelsten aller Wälder der Zeit, der Leuchtturm, das Feuer von Freiheit und Gleichheit.

Aber wie fügt sich die Idee eines amerikanischen Exzeptionalismus in das Bekenntnis Bidens zum Multilateralismus, wie verschwistert man die Notwendigkeit einer proaktiven Außenpolitik mit der Kriegsmüdigkeit der Bürger?

Besonders Blinkens Weltsicht ist idealistisch geprägt

2019 hat sich Bidens zukünftiger Sicherheitsberater Jake Sullivan in einem Essay für „The Atlantic“ an einer neuen Begründung versucht. Elemente davon finden sich auch in Reden und Texten von Biden und Blinken. Sullivan versucht, die religiös-naturrechtliche Begründung der Gründerväter abzustreifen.

[Jetzt noch mehr wissen mit TPlus: "Die Demokratien sind heute stärker als zu Beginn der 1930er Jahre" - Lesen Sie hier ein Gespräch mit dem Historiker Heinrich August Winkler.]

Aus seiner Sicht fußt die amerikanische Ausnahmestellung darin, dass Amerika ein Land von Problemlösern sei und und eines, das andere als „unusual power“ ansähen, ein Land, dem man zutraut, zumindest etwas am „globalen Gemeinwohl“ interessiert zu sein. Trumps „falsche“ Gegenüberstellung von Globalismus und Patriotismus gelte es zu durchbrechen und beides miteinander zu vereinen.

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Der amerikanische Exzeptionalismus nach Biden, Blinken und Sullivan hätte demnach drei Elemente: Erstens betonen alle drei, die US-Außenpolitik müsse der amerikanischen Mittelschicht nützen, zum Beispiel in einer Handelspolitik, die amerikanische Märkte beschützt, und durch eine international abgesicherte fairere Steuerpolitik für internationale Konzerne. Einige Punkte legte Blinkens Vorgänger im Amt des stellvertretenden Außenminister, William Burns, kürzlich in Artikel dar.

Sie betonen, zweitens, den Vorrang des Führens durch Vorbild statt durch (militärische) Machtausübung, also letztlich das Ausüben von „Soft Power“. Ein Satz, den auch schon Clinton gesagt hat, findet sich sowohl bei Biden als auch bei Blinken: „Als Nation müssen wir die Welt überzeugen, dass wir bereit sind, wieder zu führen – nicht nur, indem wir unsere Macht demonstrieren, sondern auch durch die Macht des Vorbilds – not just with the example of our power but with the power of our example.“

Die Welt wartet nicht auf einen Patriarchen

Drittens sei eine amerikanische Führungsrolle nur möglich, wenn die USA mit anderen zusammenarbeiteten. Gerade Blinken gilt als Freund internationaler Verträge und der Vereinten Nationen. Das müsse zwar stets aus einer Position der Stärke heraus geschehen, aber auch mit „fähigen Partnern“.

Das alles ist zunächst nur ein Konzept. Aber Ideen sind Macht, sie leiten Handeln an. Es wird spannend, zu sehen, was konkret daraus entsteht, ob Amerika gleichzeitig Partner und „Weltenführer“ sein kann, ob eine Nation sich als „exzeptionell“ und Partner gleichermaßen verstehen kann. Denn eines steht fest: Die Welt wartet auf einen Partner, nicht auf einen Patriarchen am „Kopfende des Tisches“.

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