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Antreten zum Gespräch beim Bundespräsidenten: Merkel, Seehofer und Schulz sprachen vor. Aber was ist ihre Vision für Deutschland?

© dpa

Zwischen Jamaika und Groko: Suche nach Visionen

Was heißt heute eigentlich „konservativ“? Und was ist eine grüne, sozialdemokratische, linke Vision der Bundesrepublik? Wäre es so verrückt, ernsthaft über eine gerechtere Welt nachzudenken? Eine Kolumne

Die Welt mag eine Bühne sein, die Realpolitik bleibt eine Soap: Nach einer Bundestagswahl, die dieses Land in seiner demokratischen Entwicklung um Jahre zurückgeworfen hat, in einer Zeit der gesellschaftlichen Unruhe, kommt eine Regierung zunächst nicht zustande, und so richtig kann keiner sagen, warum nicht.

Vielleicht liegt hier der Unterschied zwischen Politik und dem Politischen. Dass Kompromisse nicht immer möglich sind, ist selbstverständlich. Aber es sollten die Widersprüche in den großen Visionen, im großen Ganzen sein, die dann zu unterschiedlichen Entscheidungen für die konkrete Alltagspolitik führen. Mit diesen Unterschieden könnten die Parteien leben oder nicht, aber wenigstens wären es Kompromisse oder Verhandlungsabbrüche aus politischen Gründen, und nicht aus strategischer Profilierung.

Gerade die Liberalen könnten doch mit einer neuen Vision aufwarten. Nicht nur, weil sie es bei der vorletzten Wahl nicht in den Bundestag geschafft haben, sondern weil die liberale Idee weltweit an ihre Grenzen stößt, sich also neu erfinden muss und gleichzeitig auf eine reiche Tradition zugreifen könnte: Der Begriff der Freiheit hat sich längst und endgültig von der Idee des Marktes entkoppelt. Nicht einmal die konservativsten ökonomischen Schulen geben sich heute noch mit einem bloßen Imperativ zu Deregulierung und Marktfreiheit zufrieden. Die verschiedensten politischen Lager (und nicht wenige Unternehmen) erkennen mittlerweile an, dass die Nationalstaaten angesichts einer internationalen Wirtschaft oft nicht in der Lage sind, die freie Entfaltung ihrer Bürger zu sichern.

Es braucht Haltungen, die ja kein Widerspruch sind zum Kompromiss

Und genau um diese freie Entfaltung ging es beispielsweise einem John Stuart Mill, einen liberalen Ökonomen aus dem 19. Jahrhundert, der staatliche Handlungseingriffe als notwendig ansah und nicht nur als gerechtfertigt, wenn die persönliche Entfaltung in der Gesellschaft bedroht war. Übrigens gilt er als einer der ersten (männlichen) Feministen, auch ein Thema, das für eine neue liberale Idee in unserer Zeit relevant sein könnte: Existiert eine liberale Vision von „Männlichkeit“? Viele Anknüpfungspunkte gibt es für einen aktualisierten Liberalismus – auch für eine Annäherung an Solidarität: zum Beispiel bei dem Urvater des Liberalismus Adam Smith, der in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ nichts Geringeres versuchte, als die Fähigkeit des Menschen zur Empathie zu begründen – später eine Grundvoraussetzung für seine Vorstellung von freien Märkten, die er in „Wohlstand der Nationen“ ausarbeitet. Aber was ist jetzt nochmal die FDP?

Es wäre unfair, hier nur die Liberalen zu kritisieren – auch wenn sie es sind, die die Sondierungsgespräche abgebrochen haben. Was heißt heute eigentlich „konservativ“? Gibt es eine Vision, die sich nicht ex negativo über Geflüchtete oder Islam definiert oder mit Leitkulturideen selbst aushöhlt? Und was ist eine grüne, sozialdemokratische, linke Vision der Bundesrepublik? Wäre es so verrückt, ernsthaft über eine gerechtere Welt nachzudenken?

Anstatt um Wählerstimmen zu buhlen, etwa auf dem Rücken von Geflüchteten, ist es Zeit für die Entwicklung von Visionen, aus denen sich dann Haltungen ableiten – denn eine Haltung steht nicht im Widerspruch zu Kompromissen, im Gegenteil ist sie eine Voraussetzung. Alles andere sind machtstrategische Schein-Haltungen, die nichts mit Verantwortung zu tun haben – trockenes Laub, das mit dem Wind geht oder, wenn da Feuer ist, wo es niederfällt, den Brand vergrößert.

Deniz Utlu

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