zum Hauptinhalt
Balkan Troubles befürchteten die Staaten Europas im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Der Topf kochte denn auch über. Heute ist die Lage zum Glück friedlich. Doch Serbien steht immer noch zwischen den Stühlen.

© Imago

Zwischen EU und Russland: Serbien im Würgegriff der Ukraine-Krise

Letzter Verbündeter Russlands in Europa und EU-Beitrittskandidat: Seit dem Ukraine-Konflikt steht Serbien vor einer Zerreißprobe. Eine Reise durch ein Land auf der Suche nach einem eigenen Weg.

Er spuckt aus und sagt: „Den Letzten beißen die Hunde. Und uns beißen diese europäischen Hunde besonders gern.“ Der Mann mit dem lichten Haar macht eine abfällige Handbewegung in Richtung des Staus an der nahen Landesgrenze, setzt sich neben seinen Lastwagen und holt Brote hervor. Es wird ein langer Tag werden, im postjugoslawischen Niemandsland zwischen Montenegro und Serbien. Seit sich Montenegro abgespalten hat, ist Serbien übrig geblieben als Fixpunkt des ehemaligen Jugoslawien. Natürlich ist da noch der Kosovo, doch das ist eine eigene, ebenso heikle wie oft erzählte Geschichte.

Die Soldaten auf der montenegrinischen Seite sitzen in vollklimatisierten Kabinen, über denen sich ein wellenförmiges Dach spannt. „Gesponsert von der Europäischen Union“, verrät ein Schild. Auf der serbischen Seite, zumindest an dieser Landstraße, sitzen die Beamten in Containern. Für den serbischen Trucker, der auf dem Weg von Podgorica – dem ehemaligen Titograd – nach Belgrad lange warten muss, ist das alles ein Komplott Europas gegen sein Land, das keinen Meereszugang mehr hat und dafür viele Grenzen, die es nicht haben wollte und nun bewachen muss.

Mit Russland teilt Serbien keine Landesgrenze – dafür viele Kapitel seiner Geschichte, die Orthodoxie sowie vor allem das Gefühl, als übrig gebliebener Kern eines ehemals mächtigen Vielvölkerstaats vom Westen in die Bedeutungslosigkeit gedrängt zu werden. Beide Länder pflegen ihren Nationalchauvinismus, sagen Kritiker.

Für Putin werden sogar historische Daten verändert

Als „nahen Bündnispartner und Freund“ bezeichnete Wladimir Putin Serbien bei seinem Besuch vor wenigen Tagen. Gefeiert wurde die Befreiung Belgrads von deutscher Besatzung vor genau 70 Jahren. Vor fast genau 70 Jahren, um präzise zu sein, denn aus Rücksicht auf den Terminkalender des russischen Präsidenten wurde die erste große Militärparade in Serbien seit 29 Jahren um vier Tage vorverlegt. Der überschwängliche Empfang gipfelte in der Verleihung des höchsten serbischen Staatsordens, des Ordens der Republik ersten Ranges. Putin erhielt diese 2009 geschaffene Auszeichnung als Erster überhaupt. Dazu donnerten über dem Himmel von Belgrad Kampfflugzeuge, darunter Mig-29-Jagdflieger, denen Russland zuvor neue Akkus spendiert hatte, damit sie abheben konnten. Unten, in der Innenstadt von Belgrad, boten gleichzeitig Straßenverkäufer T-Shirts mit dem Konterfei Putins feil. Rasenden Absatz sollen sie gefunden haben, berichten serbische Zeitungen.

Seit der Ukraine-Konflikt Russland und den Westen an den Rand eines neues Kalten Kriegs geführt und die politischen Realitäten Europas verändert hat, steht die serbische Schaukelpolitik zwischen Brüssel und Moskau auf dem Prüfstand. „Serbien befindet sich auf seinem Weg in die EU, aber es wird sich niemals Sanktionen gegen Russland anschließen“, wiederholt Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vucic bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Diese Quadratur des Kreises ist das aktuelle Mantra der serbischen Außenpolitik. Wie lange die EU diesem Treiben noch zuschaut, ist heute offener denn je.

Die Belagerung von Sarajevo, das Massaker von Srebrenica und der Kosovo-Konflikt: Es sind vor allem junge Kapitel serbischer Historie, die für einen miesen Ruf des Landes sorgen. Was für eine Geschichte kann das also werden, die zwischen Europa und Serbien?

Brüssel lässt in Serbien nach gemeinsamer Vergangenheit graben

Vielleicht auch um das herauszufinden, lässt die EU unweit des Dreiländerecks Serbien-Rumänien-Bulgarien nach gemeinsamer Vergangenheit graben. Felix Romuliana ist ein Unesco-Weltkulturerbe und vor allem der Beweis dafür, wie verwurzelt die Geschichte Serbiens in jene Westeuropas ist. Der römische Kaiser Galerius ließ hier um 300 nach Christus einen Palast errichten. Mächtige Wehrtürme ragen heute noch aus weich gezeichneten Hügeln unweit der Kleinstadt Gamzigrad. Auch mit dem Geld der Europäischen Agentur für Wiederaufbau werden diese erhalten, „wenn das Geld denn vor Ort ankommt“. Eben daran zweifelt Milos Jakovljevic, ein junger Mann im Sportanzug, der Touristen den Palast zeigt, von denen an diesem sonnigen Herbsttag allerdings nur wenige zu sehen sind. Mit schnellen Schritten läuft Jakovljevic über tausende Jahre alte Steine, besonders zu schonen scheint er sie nicht, schließlich muss ein Teil ohnehin wieder zugeschüttet werden, weil die Erhaltung freigelegter Vergangenheit dann doch mehr Geld kostet, als Europa zur Verfügung stellt. Jakovljevic stellt sich auf eine Treppe, guckt über die nahen Hügel und sagt: „Ich habe zwei Uniabschlüsse, spreche eine Fremdsprache und arbeite nebenher als professioneller Musiker. Geld bekomme ich keins. Sie sehen doch, wie die Situation hier ist.“

Jakovljevic deutet auf das östliche Tor des ehemaligen Palasts, er erklärt, dass es mit deutschem Geld restauriert wird. Genauso wie das Südportal im Dom des Heiligen Sava in Belgrad, der monumentalen Zentralkirche der serbischen Orthodoxie, das deshalb als „Frankfurter Tor“ bezeichnet wird. Türen und Tore finanziert Deutschland in Serbien. Sind es Zugänge nach Europa? „Bei uns gibt es ein Sprichwort“, sagt Jakovljevic, „der Esel kommt nicht zum Tanzen zur Hochzeit, sondern zum Arbeiten.“ Sein Land sieht er gefangen zwischen zwei schlechten Alternativen: entweder übrig bleiben, als von der EU umschlossene, verarmte Insel der Ewiggestrigen, oder Mitglied werden in einem Klub, dessen Regeln andere machen. „Jugoslawien war ein künstliches Gebilde. Die Menschen wurden gezwungen, sich als Einheit zu fühlen“, erklärt Jakovljevic und lächelt. Das heutige Europa, will er sagen, funktioniert nicht viel anders. „Und nach Jugoslawien kamen die 90er und all die Kriege. In dieser Zeit ist alles Schlechte in uns gegärt, weil es nie Zeit bekommen hat zu entweichen.“

In der Provinz schimmert selbst das Gras rostig

Eine Fahrt durch die serbische Provinz ist eine stille, oft schöne, manchmal bedrückende Erfahrung. Verlassene Fabriken, die nie jemand zu Galerien oder Industriemuseen umbauen wird, wechseln sich ab mit kleinen Häuschen, die sich vor ihrer Modernisierung wegzuducken scheinen. Sogar das Gras schimmert rostig, wenn zwischen verfallenen Partisanen-Denkmälern und darniederliegenden Dörfern struppige Felder am Betrachter vorbeifliegen. Der serbische Brauch, schwarz umrandete Todesanzeigen an Straßenlaternen und Bushaltestellen zu kleben, trägt auch nicht unbedingt zu heiterem Gemüt bei.

Wie anders sieht es an der Donau aus, am Eisernen Tor, dem landschaftlich imposantesten Teil des Landes. So kennen Deutsche Serbien, wenn sie es denn kennen, weil sie auf der Donau aus Österreich durch den Balkan bis zum Schwarzen Meer fahren. Fast senkrecht erheben sich dort wild bewachsene Felsen von den Ufern der Donau in die Höhe. Hier überspannte einst die längste Brücke der antiken Welt die Donau, erbaut von Kaiser Trajan, an den eine nur vom Wasser aus sichtbare Tafel erinnert. Brücken über die Donau gibt es heute zwischen Serbien und Rumänien lediglich zwei, sie führen über die zwei Laufwasserkraftwerke, die von den beiden Ländern noch aus Zeiten des Eisernen Vorhangs betrieben werden. Fast scheint die mächtige Donau heute ein fließender Vorhang zu sein zwischen Rumänien und Serbien, zwischen EU und Nicht-EU.

Hinter seinem Steuerrad lenkt Dragan Buzganovic mit sparsamen Handbewegungen sein Schiff, auf das sich nur wenige Touristen verirrt haben. Viel muss der weißhaarige Kapitän nicht machen, stundenlang kommt ihm kein anderes Gefährt entgegen. „Früher war hier so viel los“, erzählt Buzganovic, der schon sein ganzes Leben lang auf der Donau unterwegs ist. „Mir hat mal einer gesagt: Juri Gagarin ist ins Weltall geflogen. Aber du, Dragan, bist dreimal um die Erde gefahren.“

Ganz früher, vor 1990, sei der Gütertransport wichtig gewesen, damals habe es eben noch Industrie in der Region gegeben. In den 90er Jahren sei die Donau dann wieder eine Lebensader geworden, vor allem Benzin sei damals geschmuggelt worden, aus Rumänien, um die Sanktionen des Westens gegen das autoritäre Regime von Slobodan Milosevic zu umgehen. „Die Ostler halten zusammen“, sagt Buzganovic, „vor allem wenn es ums Geld geht.“ Nein, schlimm findet er die Ruhe auf der Donau nicht, etwas ungewohnt vielleicht.

Belgrad: die Kapitale, die Verrufene, Sin City

Beliebt. Als Gegenspieler des Westens genießt Wladimir Putin hohes Ansehen in Serbien.
Beliebt. Als Gegenspieler des Westens genießt Wladimir Putin hohes Ansehen in Serbien.

© AFP

Diese Ruhe verfliegt, je näher Belgrad kommt, die Kapitale, die Verrufene, die große, böse Stadt. „Sin City“ nennen Belgrad einige, der Name stammt von einer Film gewordenen, surrealen Gewaltorgie.

An den Straßen, die hineinführen ins Zentrum der Stadt, hängen riesige Plakate, die zwei ineinanderverschlungene Flaggen zeigen, die russische und die serbische. Gazprom, die größte Erdgasfirma der Welt, hat den ehemals staatlichen Erdöl-Multi Nis geschluckt und wirbt nun nicht mit der Qualität seiner Produkte, sondern mit der russisch-serbischen Völkerfreundschaft. Andere großformatige Reklametafeln werben für Autos, Uhren und Urlaub im Nahen Osten. Diese Plakate hängen oft über den Fassaden nicht renovierter Nachkriegsbauten aus grauem Beton. Wer sich die beworbenen Luxusgüter leisten soll, ist eine unbeantwortete Frage in diesem serbischen Fassadenkapitalismus.

Eine „City on Water“ versprechen andere Werbetafeln – ein gigantisches Infrastrukturprojekt, das Teile von Belgrad wie Dubai aussehen lassen soll, mit Geld aus Dubai und anderen Emiraten. Der Hauptbahnhof soll dafür verlegt, die Stadt aufgespalten und wieder zu einem neuen, modernen Ganzen zusammengefügt werden. So lautet jedenfalls der Plan der Regierung.

Kanonen zu Parkbänken - die serbische Version von Schwerter zu Pflugscharen

Wasser hat Belgrad allerdings wirklich genug, Donau und Save strömen hier zusammen. Am Zusammenfluss erhebt sich auf einem Hügel die Festung Kalemegdan. Heute ist sie ein Museum, mit Parkbänken, die aus eingeschmolzenen Kanonen gegossen wurden, gewissermaßen eine serbische Version von Schwerter zu Pflugscharen. Am Fuß des Kalemegdan-Hügels sitzt Marko Berkes in einem Café, mit großer Sonnenbrille vor seinen Augen, der letzte Abend war wieder lang. „,City on Water’ ist kein Projekt. Es ist eine Schimäre, ein miserables 3-D-Modell. Es ist nicht logisch, nicht wirtschaftlich. Es würde die Stadt zerstören“, sagt der 27-Jährige. Berkes hat Architektur studiert, viele seiner Kommilitonen sind weggegangen, die meisten nach Deutschland. Berkes aber ist geblieben – und hat einen Jazzclub aufgemacht, der das Kulturleben der Stadt maßgeblich geprägt hat. Im Mai 2014 allerdings musste er schließen. Die Begründung der Behörden war nebulös, „irgendwie sind wir zwischen eine alte und eine neue Brandschutzverordnung geraten“, sagt Berkes. Er raucht eine Selbstgedrehte und lehnt sich zurück. Nein, weggehen wolle er nicht.

"Es gibt hier einen Kampf zwischen Geld und Kultur"

„In Serbien gibt es einen Kampf zwischen Geld und Kultur“, sagt Berkes. „Die EU wurde uns als Ausweg präsentiert, doch ich habe aufgehört, darüber nachzudenken. Wir haben den Ausverkauf schon hinter uns.“ Der alte jugoslawische Traum von der Blockfreiheit, von einem eigenen Weg, der sei heute bei vielen wieder da, erzählt Berkes. Doch in der Praxis sehe es eben so aus: Entweder von der EU und der Globalisierungswalze überrollt werden oder arm bleiben. „Jugoslawien war ja eine Art EU“, sagt Berkes. „Aber in den 90er Jahren haben sich alle in Europa zusammengerauft und voneinander profitiert. Wir haben in dieser Zeit Krieg geführt. Wir haben zu viel Energie verloren.“ Dieses diffuse Gefühl, nur die Wahl zwischen einer Anbiederung an den feindlich gesinnten Westen und der postjugoslawischen Schockstarre zu haben, nagt an vielen jungen Serben.

Dieser Tag, an dem Berkes im Café sitzt, ist kein gewöhnlicher für Belgrad. Die Gay Pride steht an. Seit 2010, als nationalistische Horden die Stadt verwüsteten, um die Parade zu verhindern, war sie jedes Jahr ausgefallen, offiziell „aus Sicherheitsgründen“. An diesem 28. September 2014 findet die Parade wirklich statt – und gespenstische Unruhe hängt über der gesperrten Innenstadt. In fünf Sicherheitskordons haben nach offiziellen Angaben 8000 Polizisten den Demonstrationszug abgeriegelt, gefühlt sind es doppelt so viele. „Das ist keine Parade, das ist eine Waffenschau der Regierung!“, sagt ein Mann, der wegen der Parade nicht in sein Haus kann. „Sehe ich aus wie eine Schwuchtel?“, brüllt ein anderer die Polizisten an.

„Wir haben nichts gegen Schwule. Wir wollen normal sein“

Die Parade selbst – 500 Schwule und Lesben und ebenso viele Journalisten – zieht derweil unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch die Innenstadt. Es bleibt weitgehend friedlich, und es bleibt vor allem der Eindruck, dass die serbische Regierung nur einen Gruß nach Brüssel geschickt hat, einen Gruß, der Liberalität vermitteln soll, geschützt von Soldaten mit Hubschraubern und, ja, Schützenpanzern.

„Wir haben nichts gegen Schwule. Wir wollen normal sein“, sagte Studentin Sveta, die in der Innenstadt wohnt und deshalb während der Parade nicht nach Hause kann. Sie kaschiert die doppelbödige Komik ihrer Worte mit einem Lachen. Vor ihr langweilt sich eine Polizei-Hundertschaft. Als ein Hochzeitspaar auftaucht, ein traditionelles Paar mit stolzem Bräutigam und strahlender Braut, wachen die Polizisten auf, sie posieren für ein spontanes Foto mit den frisch Vermählten. Danach formen sie einen Korridor und schlagen gegen ihre Schilder. Keine Regel ohne Ausnahme, das Paar ist unverdächtig, die Gay Pride aufmischen zu wollen. Es darf passieren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false