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Ein ukrainischer Soldat inspiziert ein beschädigtes Militärfahrzeug in Charkiw.

© Marienko Andrew/AP/dpa

Update

Zweitgrößte Stadt der Ukraine: Ukraine drängt offenbar russische Soldaten aus Charkiw zurück

Die zweitgrößte Stadt der Ukraine soll wieder vollständig unter ukrainischer Kontrolle sein. Am Sonntag war Charkiw über Stunden heftig umkämpft.

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Die Aufnahmen wecken die schlimmsten Befürchtungen, schockierte Stimmen kommentierten auf den sozialen Netzwerken, was sie mitansehen mussten. Eine gewaltige Explosion erhellte am frühen Sonntagmorgen die Dunkelheit über der Stadt Charkiw.

Pilzförmig stieg eine mächtige Rauchwolke weit in den Himmel auf. Was manchem an einen Atompilz erinnerte, war eine Gaspipeline, die die russischen Truppen gesprengt haben sollen. Zu dem Video der Explosion, das von der Agentur Unian verbreitet wurde, hieß es, dass es sich dabei „nicht um einen nuklearen Angriff handelt, auch wenn es so aussehen mag“.

Russische Armee rückt ins Zentrum vor

Die zweitgrößte Stadt des Landes mit gut 1,4 Millionen Einwohnern, etwa 40 Kilometer vor der Grenze zu Russland im Nordosten der Ukraine gelegen, war am Sonntag besonders heftig umkämpft. Die russische Armee rückte ukrainischen Angaben zufolge am frühen Sonntag bis ins Zentrum der Metropole vor.

Mehrere Orte im Stadtgebiet seien betroffen, verkündete der Gouverneur der gleichnamigen Region, Oleh Sinegubow, auf Facebook. Die Angreifer seien mit leichter Technik durchgebrochen, erklärte er weiter. Die ukrainischen Streitkräfte würden die Gegner besiegen.

Ukrainische Soldaten sind außerhalb von Charkiw im Einsatz.
Ukrainische Soldaten sind außerhalb von Charkiw im Einsatz.

© dpa/Andrew Marienko/AP

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Ukrainische Streitkräfte versuchten, die russischen Soldaten zurückzudrängen. Zivilisten waren aufgefordert, nicht nach draußen zu gehen und Schutz zu suchen.

Auf Videos, die von dem Innenministeriumsberater Anton Heraschtschenko und dem staatlichen Dienst für Sonderkommunikation und Informationsschutz im Internet veröffentlicht wurden, waren mehrere leichte Militärfahrzeuge auf einer Straße und ein brennender Panzer zu sehen.

Straßen sind menschenleer

Ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete von heftigen Straßenkämpfen. Seit dem Vormittag seien Maschinengewehrfeuer und Explosionen zu hören. Er habe zudem mehrere verlassene russische Panzerfahrzeuge und ein ausgebranntes Wrack gesehen, berichtete der Reporter.

Die Straßen waren menschenleer. Auf Fotos und Videos in sozialen Netzwerken waren Tote zu sehen, sowie zerstörte Häuser und Militärgerät.

Ein beschädigtes Gebäude in Charkow.
Ein beschädigtes Gebäude in Charkow.

© dpa/ukrin

Ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums hatte dagegen zuvor erklärt, ukrainische Soldaten würden „massenhaft“ ihre Waffen niederlegen. Sie würden den Kampf verweigern, behauptete Sprecher Igor Konaschenkow am Sonntag weiter und verkündete: In Charkiw habe sich am Samstag ein ganzes Regiment ergeben, das mit Boden-Luft-Raketenabwehrsystemen vom Typ Buk-M1 ausgerüstet gewesen sei. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

„Allen ukrainischen Soldaten kommt Respekt und Unterstützung zuteil“, sagte Konaschenkow weiter. Sobald bürokratische Formalien erledigt seien, kehrten sie zu ihren Familien zurück. Im Verlauf des Sonntagsvormittags folgten dann jedoch Meldungen, die nicht nach einer Niederlage der Ukraine klangen. Man habe den Vorstoß der russischen Armee auf Charkiw zurückgeschlagen, berichtete Gouverneur Sinegubow.

„Vollständig vom Feind gesäubert“

Charkiw sei wieder „vollständig“ unter ukrainischer Kontrolle. „Die Streitkräfte, die Polizei und die Verteidigungskräfte arbeiten, und die Stadt wird vollständig vom Feind gesäubert“, verkündete Sinegubow am Mittag auf dem Messengerdienst Telegram.

Ein beschädigtes Militärfahrzeug am Stadtrand von Charkow.
Ein beschädigtes Militärfahrzeug am Stadtrand von Charkow.

© dpa/Ukrinform

Nato-Offiziere stuften diese Aussage als zutreffend ein. Der Erfolg der ukrainischen Armee gilt als ein weiterer Beleg ihrer Widerstandskraft, die Armee kämpft entschlossener als viele Beobachter zuvor erwartet hatten. In den vergangenen Tagen fügten ukrainische Truppen den russischen Invasoren immer wieder Verluste zu – trotz ungleichem Kräfteverhältnis einer großen militärischen Übermacht auf russischer Seite.

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Auch der britische „Telegraph“-Reporter Roland Oliphant bestätigte die Situation vor Ort in Charkiw. Die Straßen seien verwaist, es gebe Kämpfe im nordöstlichen Teil der Stadt, doch Charkiw sei – sofern er das für eine solch große Stadt beurteilen könne – „in den Händen der Ukraine“, schrieb er auf Twitter.

„Narrativ vom ukrainischen Brudervolk“

Experten hatten indes bereits am vergangenen Donnerstag mit einer raschen Einnahme der Millionenstadt durch die russische Armee gerechnet. Moskau könne aus Propagandagründen nicht so brutal vorgehen wie einst im syrischen Aleppo, sagte ein Nato-Vertreter im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Als Grund nannte er das „Narrativ vom ukrainischen Brudervolk“.

Mehr zum russischen Angriff auf die Ukraine:

Die ukrainische Führung warf Russland Kriegsverbrechen vor. Zivile Infrastruktur in großen Städten werde absichtlich zerstört, Zivilisten würden getötet.

Russland wies dies entschieden zurück. Kiew kritisierte unter anderem die Zerstörung der Gasleitung in Charkiw als „Missachtung der Normen des humanitären Völkerrechts“. Es war zunächst unklar, ob die Explosion Gaslieferungen auch außerhalb der Stadt oder ins Ausland betrifft.

Ein ukrainischer Soldat geht an einem deaktivierten Mehrfachraketenwerfer am Stadtrand von Charkiw vorbei.
Ein ukrainischer Soldat geht an einem deaktivierten Mehrfachraketenwerfer am Stadtrand von Charkiw vorbei.

© dpa/Vadim Ghirda/AP

Kämpfe im Süden der Ukraine

Der ukrainische Generalstab erklärte, das Tempo des russischen Angriffs sei gebremst worden. Der Feind habe Nachschubprobleme, Soldaten seien erschöpft, die Truppe dezimiert. Bisher seien etwa 4300 Soldaten getötet worden, schrieb Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar bei Facebook.

Dutzende Flugzeuge und Hubschrauber, Hunderte Panzer und weitere Fahrzeuge sollen zerstört worden sein.

Im Süden der Ukraine rückte die russische Armee nach eigenen Angaben auf die Großstädte Cherson und Berdjansk vor. Beide Städte seien „vollständig eingeschlossen“, erklärte das Verteidigungsministeriums in Moskau. Demnach übernahmen russische Soldaten auch die Kontrolle über Henitschesk, eine Hafenstadt am Asowschen Meer, und einen Flugplatz in der Nähe von Cherson.

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