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Mit steigender Diversität der Gesellschaft werden nationale Narrative problematischer.

© Kitty Kleist-Heinrich

Zur Eröffnung des Zentrums für Flucht und Vertreibung: Nicht nur die Gesellschaft, auch die Erinnerung wird diverser

Die Schuld in der NS-Zeit als übermächtige Referenz für deutsche Politik schließt auch aus und behindert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Es schließt eine Lücke in der nationalen deutschen Erinnerungskultur: Das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, das am Mittwoch gegenüber dem Anhalter Bahnhof seine Pforten für Besucher öffnet.

Flucht und Vertreibung seien in der DDR „verschwiegen“ und in der Bundesrepublik lange Zeit „weitgehend ausgeblendet“ worden, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Festakt am Montag – und hat damit nicht unrecht.

Jetzt wird das Leid der deutschen Vertriebenen aus Osteuropa anerkannt, vermittelt und im nationalen Kollektivgedächtnis gesichert – und es wird zugleich klar gestellt, dass sie dieses Schicksal nur erlitten, weil Deutschland ganz Europa mit einem Vernichtungskrieg überzogen hatte.

Damit ist das neue Zentrum Ausdruck einer Souveränität Deutschlands, das sich mittlerweile traut, Unrecht an Deutschen zu benennen, ohne die eigene Verantwortung zu schmälern.

Wenn ein Viertel der Bevölkerung Migrationshintergrund hat - welche Erinnerung gilt dann?

Das Zentrum war sicher auch zur Befriedung der innerdeutschen Gesellschaft gedacht – was jedoch nur noch relevant ist, wenn man die alte, bundesrepublikanische oder ostdeutsche Gesellschaft vor Augen hat. In der Gesellschaft von heute hat mehr als ein Viertel der Menschen einen Migrationshintergrund aus ganz anderen Weltgegenden und keine mit dem Thema verbundenen Erinnerungen oder Familiengeschichten.

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Und so wirkt die deutsche erinnerungspolitische Konzentration auf den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und seine Folgen merkwürdig antiquiert. Auch wenn das Thema Vertreibung und Migration hochaktuell ist und vielleicht für viele Zugewanderte in Deutschland, die teilweise nicht freiwillig ihre Heimatländer verließen, ein interessanter Ansatzpunkt zur Beschäftigung mit deutscher Geschichte ist. Aber wenn die Prämisse gilt, dass Erinnern „Arbeiten an der Zukunft ist“, wie es die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann ausdrückt, dann gibt es ein Problem: Die Fixierung auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus als Bezugspunkt und Referenz ist aufgrund der deutschen Schuld verständlich, aber sie darf nicht mit Wiedergutmachung verwechselt werden. Und sie be- oder verhindert immer öfter eine pragmatische und realistische Gesellschafts- und Außenpolitik.

Russland wird als Opfer des deutschen Angriffskriegs gesehen, den Palästinensern Empathie verweigert

Das zeigt sich im Russlandbild einiger Politiker, die das Land immer noch hauptsächlich als Opfer des deutschen Angriffskriegs sehen, aber auch im Umgang mit dem Schicksal der Palästinenser, denen Empathie verweigert wird, weil Deutschland gegenüber den Juden so große Schuld auf sich geladen hat. Was macht das mit den 100.000 Deutschen oder Einwohnern palästinensischer Herkunft?
Und die heftigen Debatten darüber, ob Völkermorde verglichen werden dürfen, ob die israelische Besatzung ein Apartheidsregime ist, machen deutlich, dass mittlerweile unterschiedliche (historische) Erfahrungen und Narrative in der deutschen Gesellschaft präsent sind. Auch Erinnerung wird diverser. Metanarrative nationaler Erinnerungskultur werden daher immer problematischer.

Vielleicht kann das schräg gegenüber vom Zentrum für Flucht und Vertreibung geplante Exilmuseum noch den einen Schritt weiter gehen: Nicht nur als Bringschuld an die aus Deutschland Vertriebenen erinnern, sondern Berlins neue Exilanten feiern.

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