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Wie kommt "sie" hier rein? Um die Wege ins Thüringer Parlament gibt es juristischen Streit.

© Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Zum Streit über Quoten für Wahllisten: Das Grundgesetz gilt auch in Thüringen

Das vernichtende Paritätsurteil des Weimarer Landesverfassungsgerichts leidet an einem schwerwiegenden Abwägungsdefizit. Ein Gastbeitrag.

- Professor Frauke Brosius-Gersdorf LL.M. hat einen Lehrstuhl an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover

Als erstes deutsches Gericht hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof in der vergangenen Woche ein Paritätsgesetz für Landtagswahlen gekippt. Er erklärte das Gesetz für nichtig, weil es gegen die Landesverfassung verstoße. Das im Juli 2019 vom Thüringer Landtag beschlossene Gesetz sah ein Reißverschlussprinzip für die Landeslisten bei der Landtagswahl vor. Die Parteien sollten die Listen abwechselnd mit Männern und Frauen besetzen.

Auf das Paritätsgesetz für Brandenburg, über das im August verhandelt wird, hat das Urteil ebenso wenig Auswirkungen wie auf die Einführung einer Quote für die Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses und die Wahl des Deutschen Bundestags. Denn der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat seine Entscheidung nur darauf gestützt, dass das Gleichstellungsgebot der Thüringer Landesverfassung zur Rechtfertigung des Paritätsgesetzes ausscheide. Das Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG), das für alle Bundesländer und den Bund gilt, hat er außer Acht gelassen.

Quotenregelungen für Parlamentswahlen werfen ein grundlegendes verfassungsrechtliches Problem auf: Sie greifen in verfassungsrechtliche Wahlgrundsätze wie die Freiheit der Wahl ein, weil sie den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit nehmen, eine ausschließlich oder überwiegend mit Männern oder Frauen besetzte Liste zu wählen.

Außerdem wirken sich Wahlquoten negativ aus auf die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Autonomie der Parteien, über die Besetzung der Landesliste frei zu befinden. Allerdings kommt diesen Verfassungsrechten – ebenso wie anderen Verfassungsgütern – kein absoluter Rang zu. Sie sind durch kollidierende Verfassungsrechte einschränkbar.

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Dementsprechend können Eingriffe in Wahlgrundsätze und die Parteienautonomie durch den bundes- oder landesverfassungsrechtlichen Auftrag zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern gerechtfertigt werden.

Diese Möglichkeit der Rechtfertigung von Quoten für die Parlamentswahl durch das verfassungsrechtliche Gleichstellungsgebot erkennt der Thüringer Verfassungsgerichtshof ausdrücklich an. Jedoch meint er, dass das Gleichstellungsgebot der Landesverfassung (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 ThürVerf) wegen der Besonderheiten seiner Entstehungsgeschichte als Rechtfertigungsgrund für das Thüringer Paritätsgesetz ausscheide.

Ob der Verfassungsgerichtshof die Entstehungsgeschichte des Gleichstellungsgebots der Thüringer Landesverfassung richtig gewürdigt hat, sei dahingestellt. Denn selbst wenn der landesverfassungsrechtliche Gleichstellungsauftrag zur Rechtfertigung der mit dem Paritätsgesetz verbundenen Eingriffe in Wahlgrundsätze und die Parteienautonomie ausscheidet, wäre der grundgesetzliche Gleichstellungsauftrag aus Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 GG als Rechtfertigungsgrund heranzuziehen gewesen.

Die grundlegende Frage ist nicht geklärt

Das Grundgesetz gilt auch im Freistaat Thüringen. Das zieht der Thüringer Verfassungsgerichtshof aber nicht einmal in Erwägung. Sein Urteil leidet daher an einem schwerwiegenden Abwägungsdefizit.

Damit ist weder für Thüringen noch für andere Bundesländer und den Bund geklärt, ob Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG Quotenregelungen für Parlamentswahlen rechtfertigt. Der 1994 in das Grundgesetz aufgenommene Gleichstellungsauftrag verpflichtet den Staat, die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern durch Beseitigung bestehender Nachteile durchzusetzen. Er gilt für den gesamten Bereich des Staates und der Gesellschaft und damit auch für die Parteien und das Parlament.

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Angesichts der strukturellen Nachteile für Frauen beim Zugang zu den Parlamenten rechtfertigt der Gleichstellungauftrag eine gesetzliche Verpflichtung der Parteien zur Aufstellung von Bewerber-Tandems aus Mann und Frau für die Direktwahl der Abgeordneten in den Wahlkreisen, aus denen der Bürger Mann oder Frau wählen kann. Hierdurch wird Chancengleichheit bei der Wahl verwirklicht, was Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG fordert.

Bewerber-Tandems wie in Frankreich, die der Bürger nur en bloc wählen kann, sind zur Verwirklichung von Chancengleichheit bei der Wahl nicht erforderlich und daher hierzulande unzulässig. Bei der Wahl starrer Landeslisten, wie sie für die Zweitstimme bei der Bundestagswahl vorgesehen sind (Alternative: offene, paritätisch besetzte Listen mit Kandidatenwahl), gibt es keine Alternative zum Reißverschlussverfahren, um den Gleichstellungauftrag des Grundgesetzes zu verwirklichen. Auch Quoten für die Listenwahl sind daher durch Artikel 3 Abs. 2 Satz 2 GG gerechtfertigt. Ohne eine solche Quote bliebe der Gleichstellungsauftrag auf der Strecke.

Politiker flüchten sich in Ausweichmanöver

Wenn in diesen Tagen Politiker betonen, dass Quoten die falsche Lösung zur Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter seien und Deutschland keine "Quotenfrauen" brauche, ist das ein typisches Ausweichmanöver. Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland trotz erheblicher Anstrengungen der Politik und Gesellschaft noch weit entfernt ist von tatsächlich gleichberechtigter Teilhabe der Frauen am Berufsleben und insbesondere an Spitzenpositionen.

Wegen der bestehenden strukturellen Nachteile für Frauen, die gläsernen Decken zu den Chefetagen der Wirtschaft zu durchstoßen, hat die Politik zu Recht vor einigen Jahren eine Quote für Führungspositionen in Unternehmen beschlossen. Bei dem Zugang zu den Führungspositionen in den Parteien und Parlamenten gibt es vergleichbare Zugangshürden, die einer chancengleichen Teilhabe der Frauen entgegensteht. Obwohl seit jeher gleich viele Frauen wie Männer zur Wahl gehen, liegt der Frauenanteil im Bundestag nur bei 31 Prozent. In vielen Landtagen und Kommunalvertretungen ist er noch niedriger.

Der Grund hierfür ist, dass Frauen von den Parteien seltener nominiert werden und häufiger auf aussichtslosen Wahlplätzen landen, wofür Männerbündnisse, männlich geprägte Kommunikations- und Karrieremuster, die Doppelbelastung der Frauen in Beruf und Familie und Vorbehalte gegenüber ihrer Eignung verantwortlich sind. Ebenso wie in der Wirtschaft helfen daher auch in den Parteien und bei der Parlamentswahl nur Quoten.

Das heißt nicht, dass Quoten das alleinige Heilmittel für die Verwirklichung der Gleichberechtigung sind. Sie sind aber unverzichtbar, weil das Grundgesetz Gleichberechtigung hier und heute fordert. Ein Verschieben der Erfüllung des Gleichstellungsauftrags auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ist unzulässig.

Vorläufig bleiben Quoten (leider) nötig

Flankierend müssen weitere Gleichstellungsmaßnahmen hinzukommen, um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben, die auch im internationalen Vergleich gering ist, zu fördern.

Unerlässlich erscheint eine Reform des Steuerrechts mit Anreizen dafür, dass Frauen nicht nur überhaupt erwerbstätig sind, sondern dabei ebenso viel arbeiten wie Männer. Solange der Staat nicht mehr tut für eine gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am Berufsleben, wird er an Quoten für Führungspositionen (leider) nicht vorbeikommen.

Frauke Brosius-Gersdorf

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