zum Hauptinhalt
Erntedank in Münster (Archiv)

© dpa/Friso Gentsch

Zum Erntedankfest: Was uns reich macht

Menschen hungern – auch daran erinnert Erntedank. Ebenso existenziell aber kann die immaterielle Nahrung sein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wer Glück hat, muss aufpassen. Wer Erfolg hat, macht sich verdächtig. Als Gefahren lauern Hoch- und Übermut – und der Fall, der tiefe Fall.

Vor 220 Jahren schrieb Friedrich Schiller die Ballade vom „Ring des Polykrates“. Sie erzählt von einem Herrscher, der wie durch ein Wunder alle Feinde besiegt, auch mit Hilfe von Gewitterstürmen. Folglich wird er gewarnt. „Mir grauet vor der Götter Neide, des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil“, sagt ihm sein Freund, der ägyptische Pharao Amasis.

Daraufhin wirft Polykrates seinen Lieblingsring ins Meer. Doch ein Fisch verschlingt den Ring, ein Fischer fischt den Fisch, ein Koch findet den Ring im Magen des Fisches und bringt das kostbare Stück seinem Besitzer zurück. Für Amasis ist das zu viel: „Die Götter wollen dein Verderben, fort eil ich, nicht mit dir zu sterben.“

Was bei Schiller der Neid der Götter, ist heute der Neid der anderen

Gesund, reich, schön, klug, beliebt, mächtig – das fordert immer einen hohen Preis, erzählt uns auch der Boulevard in großen Lettern und drastischen Bildern. Die Botschaft lautet: Glück und Glas, wie leicht bricht das, marode und morbide ist die ferne Glitzerwelt. Das Leben der Stars, geprägt von Liebesleid, Eheunglück, Rauschgiftsucht, Depressionen. Solche Geschichten sollen das Gerechtigkeitsempfinden befriedigen. Was bei Schiller der Neid der Götter, ist heute der Neid der anderen.

Wer aber ist reich: der, der alles hat, oder der, dem nichts fehlt? Beim Erntedankfest, das beileibe nicht nur Christen feiern, geht es vordergründig darum, angesichts eines üppig mit Äpfeln und Trauben, Kürbissen und Brot geschmückten Altars seinen Dank für die Ernte zu bekunden. Seht her, uns geht es gut! Und nach dem Dank werden dann die Ernteerzeugnisse an karitative Einrichtungen verteilt. Reichtum verpflichtet zum Teilen. Na klar.

In dieser Einheit von Reichtum und Dank steckt aber die Möglichkeit eines Missverständnisses. Hätten wir keinen Grund zur Dankbarkeit, wenn die Ernte schlecht ausgefallen wäre? Nein, hätten wir nicht, lautet spontan die Antwort. Stimmt das? Verstellt womöglich die Sichtbarmachung einer üppigen Ernte das Wesen eines Dankes, der mehr umfassen sollte als die Ernte?

Man dankt ja für etwas, das außerhalb der eigenen Beeinflussbarkeit gestanden hat, für etwas Erhofftes, nicht Einklagbares. Das können, neben der Ernte, viele andere Dinge sein, Gesundheit, Gedanken, Erinnerungen, Träume, Gefühle, Bindungen.

Wer ist reich: der, der alles hat, oder der, dem nichts fehlt?

„Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“, so hieß es trotzig in den sechziger Jahren in der DDR. Die Botschaft lautete: Der Mensch mit seinen Leistungen steht im Mittelpunkt, er kann alles erreichen, auch ohne Gott und gutes Wetter.

„Ohne Regen, ohne Gott geht die ganze Welt bankrott“, hatte Pfarrer Oskar Brüsewitz erwidert, der sich 1976 aus Protest gegen die SED-Diktatur selbst verbrannte. Zu seiner Beerdigung kamen mehrere Hundert Trauergäste, darunter 80 Pfarrer im Talar.

Danken kommt von denken. All die Kürbisse, Trauben und Äpfel, die an diesem Sonntag zu sehen sind, schärfen das Bewusstsein dafür, wie nötig das tägliche Brot ist. Menschen hungern – auch daran erinnert Erntedank. Ebenso existenziell aber kann die immaterielle Nahrung sein.

Wer ist reich: der, der alles hat, oder der, dem nichts fehlt? Das ist eine Frage, die sich selbst beantwortet.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false