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Michail Gorbatschow (l.) und Wladimir Putin stehen für den Anfang und das Ende guter deutsch-russischer Beziehungen (Archivfoto von 2004).

© Carsten Rehder/dpa

Zum 90. Geburtstag von Michail Gorbatschow: Die Perestroika brachte eine kurze Liebe – und viel Herzschmerz

Seit den 1990er Jahren haben sich die deutsch-russischen Beziehungen stark verändert. Welche Rolle politische und wirtschaftliche Motive dabei spielten. Ein Gastbeitrag.

Von Hermann Wentker

Hermann Wentker ist Leiter der Forschungsabteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und Autor des Buches: Die Deutschen und Gorbatschow 1985–1991. Der Gorbatschow-Diskurs im doppelten Deutschland, Metropol Verlag: Berlin 2020.

Befanden sich die Beziehungen Deutschlands zur Sowjetunion bzw. Russland Anfang der 1990er Jahre auf einem Höhepunkt, so sind sie heute auf einem Tiefpunkt angekommen.

Michail Gorbatschow trug als sowjetischer Staatspräsident mit seiner Entspannungspolitik wesentlich dazu bei, nicht nur das Verhältnis zu den USA, sondern auch das zur Bundesrepublik grundlegend zu verändern. Als sich infolge der nachlassenden Blockkonfrontation die Möglichkeit der Wiedervereinigung bot, ließ Gorbatschow diese zu.

Umfassende Kooperation konnte an die Stelle der vergangenen Konfrontation treten. Dem „Neuen Denken“ Gorbatschows, dem sich auch dessen Nachfolger Boris Jelzin anfangs verpflichtet fühlte, entsprach die vom Westen, insbesondere von Deutschland betriebene Einbindung Russlands in internationale Strukturen.

So wurde Russland in den Nordatlantischen Kooperationsrat, in die Partnerschaft für den Frieden und in die Runde der größten Industrienationen (G 7) aufgenommen. Gleichzeitig war die materielle Hilfe Deutschlands in dem unter massiven wirtschaftlichen Problemen leidenden Russland hochwillkommen. Die Deutschen wie die Westeuropäer hofften, durch ihre bilaterale und multilaterale Unterstützung Russland den Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft zu ebnen.

Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen intensivierten sich ungefähr ab dem Jahr 2000, wobei das Gasgeschäft von überragender Bedeutung war. Russland profitierte nun von steigenden Öl- und Gaspreisen, so dass der dortige Staatshaushalt erstmals wieder Überschüsse aufwies. Deutsche Firmen trieben die Gaskooperation voran, so dass 2005 der Bau einer ersten Nord-Stream-Pipeline mit der russischen Firma Gazprom unterzeichnet wurde. Insgesamt war dabei zwar Deutschland als Wirtschaftspartner für Russland wichtiger als umgekehrt; gleichwohl bildeten gute wirtschaftliche Beziehungen eine Konstante im bilateralen Verhältnis, wenngleich zwischen 2013 und 2016 das Handelsvolumen zurückging.

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Die Wirtschaftsbeziehungen strahlten jedoch nicht auf die politischen Beziehungen aus, die sich bereits unter Jelzin verschlechterten. Die auf Gorbatschow zurückgehende euro-atlantische Perspektive der russischen Außenpolitik wurde mehr und mehr aufgegeben; konfrontatives Denken, dem zufolge die Nato nicht länger als Partner, sondern wieder als Gegner erschien, kehrte bereits 1993 in die Sicherheitsapparate zurück. Vertreter dieser Sichtweise sahen sich durch die Nato-Osterweiterung bestätigt.

Deutschland vermittelte bereits im Vorfeld erfolgreich, so dass mit der Nato-Russland-Grundakte von 1997 versucht wurde, die russischen Vorbehalte abzuschwächen. 1999 verabschiedete überdies der Europäische Rat eine „Gemeinsame Strategie zur Festigung der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland am Beginn eines neuen Jahrhunderts“ – die deutsche Handschrift war auch dabei unverkennbar.

Das Militär setzte seine Interessen durch

Das Vorhaben, die Transformation in Russland über enge gesellschaftliche und wirtschaftliche Verflechtungen mit der EU voranzutreiben, fügte sich nahtlos in die bisherige Strategie ein. Jedoch reagierte der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin mit einer im Kern negativen Antwort, in der nicht die Integration Russlands in einen europäischen Wirtschaftsraum, sondern dessen Eigenständigkeit als euro-asiatische Weltmacht betont wurde.

Die Abkehr von der unter Gorbatschow eingeleiteten Politik ging vor allem auf die Interessen des Militärs, der Sicherheitsdienste und des militärisch-industriellen Komplexes zurück. Denn bei Entspannung und Kooperation mit dem Westen bestand die Gefahr, dass ihnen Mittel entzogen wurden. Dabei handelte es sich um die Führungsgruppen, die sich auch Gorbatschow entgegengestellt hatten. Der hatte ihren Einfluss zwar beschnitten, konnte aber nie ganz auf sie verzichten.

Unter Putin kehrte der imperiale Anspruch zurück

Nun konnten sie sich erneut durchsetzen, was sich in der Präsidentschaft des ehemaligen KGB-Offiziers Putin ab 2000 deutlich widerspiegelt. Trotz dessen Annäherung an Deutschland zu Beginn seiner Präsidentschaft vor dem Hintergrund eines verschlechterten Verhältnisses zu den USA und des Irak-Kriegs änderte sich nichts an dessen manichäischer, von den Kategorien des Kalten Krieges geprägter Weltsicht.

Damit einher gingen zwei Entwicklungen, die bereits in der Ära Jelzin eingesetzt hatten: Zum einen ein immer stärker ausgeprägter autoritärer Führungsstil, begleitet vom Abbau demokratischer Errungenschaften und von Menschenrechtsverletzungen – eine klare Abkehr von der von Gorbatschow eingeleiteten Demokratisierung und Zivilisierung der Innenpolitik. Zum anderen kehrte Moskau zu einer dezidiert imperialen Politik zurück, die Gorbatschow nicht ganz fremd gewesen war.

Dieser hatte den Satellitenstaaten, nicht aber den Sowjetrepubliken ein „Recht auf freie Wahl“ eingeräumt. Wenngleich er mit Glasnost und Perestroika unwillentlich zum Zerfall der Sowjetunion beitrug, wollte er diese bis zuletzt erhalten. Dabei setzte er zwar nicht primär auf innerstaatliche Gewalt, aber selbst unter seiner Herrschaft kam es Anfang 1991 zu gewaltsamen Interventionen in Litauen und Lettland.

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Jelzin als russischer Präsident erwies sich zwar als flexibler im Umgang mit den sowjetischen Nachfolgestaaten, indem er die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten mitbegründete; gleichwohl betrachtete auch er Russland in diesem postsowjetischen Staatenbund als „primus inter pares“. Anders als sein Vorgänger, scheute er gegenüber Sezessionsbestrebungen nicht vor massiver Gewalt zurück, wie der erste Tschetschenienkrieg (1992 bis 1996) zeigte. Überdies machte er sich zum Sprachrohr sich nationalistisch gebärdender innenpolitischer Kräfte, indem er sich etwa in den Jugoslawienkriegen an die Seite Serbiens stellte.

Auch brachiale Gewalt ist seither möglich

Bei Putin ist unübersehbar, dass er die russische Hegemonie im ehemals sowjetischen Imperium wiederherstellen will: „Die Sowjetunion – auch das ist Russland, nur unter einem anderen Namen“, formulierte er 2011. Dass er vor brachialer Gewalt nicht zurückscheut, wurde in Georgien 2008, bei der Annexion der Krim und bei der Intervention in der Ostukraine 2014 deutlich.

Doch Putin beansprucht nicht nur die Vorherrschaft in den ehemals sowjetischen Gebieten; mit seinem Ausgreifen nach Syrien etwa stieß er bewusst in ein Vakuum vor, das ihm Washington ließ, und kann nun im Nahen Osten das russische Gewicht wieder zur Geltung bringen. Unter diesen Umständen ist es Deutschland, das in letzter Zeit auch Cyberangriffen aus Russland ausgesetzt ist, unmöglich, zu einer Verständigungspolitik zurückzukehren, wenn es sich nicht unglaubwürdig machen will.

Die Bundesregierung kann, wie in den vergangenen Jahren, zu vermitteln suchen und die noch offenen Kanäle nutzen. Eine Rückkehr zu einem einvernehmlichen Verhältnis zwischen Berlin und Moskau kann es jedoch erst geben, wenn sich die russische Politik darauf besinnt, dass beide Seiten von guten Beziehungen wie zu Beginn der 1990er Jahre profitiert haben.

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