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Immer öfter melden sich Arbeitnehmer wegen einer psychischen Erkrankung krank.

© inkje / Photocase

Zu viel Stress im Beruf: Wenn die Arbeit krank macht

Arbeitnehmer bleiben immer öfter krank zu Hause. Zunehmender Druck im Beruf ist eine wichtige Ursache dafür. Wie können sich Beschäftigte vor Stress schützen?

Geh ich zur Arbeit oder nicht? Das fragen sich viele Beschäftigte, wenn es ihnen nicht gut geht. Immer öfter lautet die Antwort: Ich gehe nicht. 18,5 Tage, also fast vier Wochen, blieb jeder Beschäftigte vergangenes Jahr durchschnittlich wegen Krankheit zu Hause. Damit hat der Krankenstand in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. Viele Arbeitnehmer leiden außerdem zunehmend unter Stress. Das geht aus dem aktuellen Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen (BKK) und einer Studie des deutschen Gewerkschaftsbundes DGB hervor, die am Donnerstag vorgestellt wurden. Demnach war ein Drittel der Beschäftigten 2018 mindestens zweimal krankgeschrieben, fast jeder Vierte einmal.

Was sind die Gründe für den hohen Krankenstand?
Für den Rekord im vergangenen Jahr machen die Autoren der BKK-Studie vor allem die starke Grippe- und Erkältungswelle verantwortlich. Damit einher ging ein Anstieg der Fehltage wegen Atemwegserkrankungen und Infektionen. Etwa jeder sechste Krankheitstag ging 2018 aufs Konto der Atemwegserkrankungen. Weiterhin an erster Stelle mit fast 24 Prozent der Fehltage liegen allerdings weiterhin Krankheiten des Muskel- und Skelettsystems. Einen deutlichen Anstieg von 5,4 Prozent sahen die Wissenschaftler bei den Fehltagen aufgrund von psychischen Störungen. Sie waren Ursache für fast jeden sechsten Arbeitsunfähigkeitstag.

Warum spielen psychische Erkrankungen so eine große Rolle?
Seit 2008 hat sich die Anzahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen mehr als verdoppelt. Das liegt auch daran, dass Arbeitnehmer bei psychischen Krankheiten viel länger krankgeschrieben werden als beispielsweise bei einer Erkältung. Im Schnitt waren es 37 Tage. Das Bundesministerium für Gesundheit schätzt die pro Jahr durch depressive Erkrankungsfälle anfallenden Krankheitstage auf etwa 11 Millionen.

Zu mehr als 90 Prozent sind dafür Depressionen, Ängste, Zwangs- und Belastungsstörungen verantwortlich. Eine wichtige Ursache für den Anstieg sehen Experten darin, dass psychische Störungen heutzutage schneller und besser erkannt werden als früher. „Psychische Krankheiten sind heute vielerorts kein Tabuthema mehr, Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen sich nicht mehr verstecken“, sagte Franz Knieps, Chef des BKK-Dachverbands.

Allerdings haben auch die Arbeitsbedingungen einen großen Einfluss auf das psychische Befinden der Beschäftigten – allen voran die zunehmende Arbeitsverdichtung. Das bestätigt auch die DGB-Studie, der zufolge der Druck auf Angestellte weiter gestiegen sei. Jeder dritte Beschäftigte gab demnach an, dass er in den vergangenen zwölf Monaten „deutlich mehr Arbeit“ bewältigen musste als noch im Vorjahr.

Welche Berufsgruppen sind besonders gefährdet?
Den BKK-Daten zufolge sind vor allem Menschen betroffen, die im Beruf viel mit anderen Menschen zu tun haben und dabei unter anhaltendem Stress stehen, zum Beispiel Erzieher, Pflegekräfte oder Lehrer. Auch Beschäftigte im Sicherheitsbereich fallen oft aufgrund psychischer Probleme aus. Mit 5,8 Krankheitstagen hatten Altenpfleger 2018 mit Abstand die meisten Fehltage wegen psychischer Störungen. Vor allem monotone Beschäftigungen oder Jobs ohne Entscheidungsfreiheit, aber mit hohem Druck, sind betroffen. Die DGB-Studie zeigt, dass die Stress-Häufigkeit mit der Komplexität des Jobs weiter zunimmt.

In Produktionsberufen sagen 22 Prozent der Befragten, dass sie „sehr häufig“ oder „oft“ die Arbeit nicht in der vorgesehenen Zeit schaffen. Im IT-Bereich und in naturwissenschaftlichen Berufen sagen das sogar 35 Prozent. In anderen Berufen liegen die Zahlen dazwischen. Stress ist in der gesamten Arbeitswelt eine Herausforderung.

Dass auch Berufspolitiker oft an ihre Grenzen geraten, zeigte sich kürzlich im Bundestag: Innerhalb eines Tages erlitten zwei Abgeordnete einen Schwächeanfall. Bei beiden soll die Arbeitsbelastung eine zentrale Rolle gespielt haben. Das Parlament will wegen solcher und ähnlicher Fälle möglichst bald auf lange Nachtsitzungen verzichten. „Entscheidend ist meist nicht der Beruf, sondern das Arbeitsumfeld“, sagt der Biopsychologe und Stressforscher Clemens Kirschbaum von der TU Dresden. Dieser Einfluss kann auch positiv sein. „Unter den richtigen Umstände macht Arbeit eher gesund als krank“, sagt Holger Pfaff, Medizinsoziologe und Mitherausgeber der BKK-Studie. Untersuchungen zeigten, dass Arbeitslose ein erhöhtes Risiko haben, psychisch zu erkranken.

Welche Alarmzeichen gibt es?
„Typische Symptome sind Schlafprobleme oder eine geringer werdende Zufriedenheit”, sagt Kirschbaum. „Oft merken Betroffene selbst, dass sie ihre Aufgaben bei der Arbeit nicht mehr bewältigt bekommen und sich überfordert fühlen.” Neben psychischen Alarmzeichen gibt es auch körperliche. So könnten Magen-Darm-Probleme, Entzündungen oder Schmerzen Anzeichen für unbemerkten Stress sein. Bei der Diagnose psychischer Erkrankungen sollten auch physische Faktoren berücksichtigt werden.

Wie kann ich mich selbst schützen?
Neben guten Arbeitsbedingungen hilft vor allem ein gesundes Privatleben. „Wir brauchen Ziele, die außerhalb der Arbeitswelt erreicht werden können“, sagt Stressforscher Kirschbaum. „Ob wir lieber ins Kino gehen, gut essen oder Freunde einladen, ist nicht entscheidend. Aber man sollte etwas haben, das einem außerhalb des Büros noch wichtig ist.“ Sollten Verbesserungen im Job nicht möglich sein, könne sich auch ein Jobwechsel lohnen, so Kirschbaum. „Ein Wechsel kann auch eine Investition in die Zukunft sein.“ Der gewählte Job sei ein wichtiger Faktor, sagt auch Holger Pfaff. In einem Job, der einem nicht liege, könne man sich auch nicht verwirklichen. Er empfiehlt, sich aktiv einzubringen, „damit man möglichst nicht in die Lage gerät, nur noch Befehle auszuführen.“ Wichtig sei, auf das eigene Wohlbefinden zu achten und eigene Grenzen zu erkennen. Viele Arbeitnehmer gingen immer wieder über diesen Punkt hinaus und rutschten so in eine psychische Erkrankung. „Mitarbeiter müssen sich trauen, darüber zu sprechen, wenn sie an der Belastungsgrenze angekommen sind“, sagt auch BKK-Mann Knieps. „Betriebe müssen darauf reagieren.“

Was kann mein Arbeitgeber tun?
Arbeitgeber können Bedingungen schaffen, unter denen sich ihre Mitarbeiter wohlfühlen. Eigene Entscheidungen sind nicht in jedem Job möglich, aber auch flache Hierarchien können dazu beitragen, dass Arbeitnehmer nicht das Gefühl haben, nur Befehlsempfänger zu sein. „Viele Vorgesetzte sehen leider nicht, dass auch Wertschätzung und konstruktives Feedback zu ihrer Führungsaufgabe gehören“, sagt Clemens Kirschbaum. „Vor allem Männer nehmen das oft nicht ernst, wobei sie viel öfter auf dem Chefsessel sitzen“, sagt er. „Gute Führungskräfte bilden auch ihre kommunikativen Kompetenzen weiter.” Im Umgang mit Mitarbeitern sei vor allem Frauen eine regelmäßige Rückmeldung wichtig. Für Männer sei dagegen oft die Bezahlung ein Ausdruck von Anerkennung. Doch auch für sie sei Lob durch Vorgesetzte wichtig, sagt Kirschbaum. Dafür eigneten sich regelmäßige Feedbackgespräche, deren Regeln einheitlich und konstruktiv sein sollten.

Dass Unternehmen für das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter sorgen sollten, zeigt eine andere Zahl aus der DGB-Studie: 40 Prozent der Befragten sagten, unter den derzeitigen Anforderungen nicht wie bisher bis zur Rente arbeiten zu können. Seit 2013 schreibt das Arbeitsschutzgesetz eine psychische Gefährdungsbeurteilung vor. Sie soll dabei helfen, Risiken bei der Arbeit zu erkennen und zu beseitigen. Soziologe Pfaff sagt: „Damit sie wirken kann, muss sie jedoch auch flächendeckend umgesetzt werden.“

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