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Wer sich für die Rechte von queeren Menschen einsetzt, muss mit Angriffen rechnen. Hier eine Aktion der Initiative Grundgesetz für Alle vor dem Bundestag.

© Christian Ditsch/imago-epd

Zivilgesellschaft: Demokratische Initiativen auch in Deutschland bedroht

Wer sich für Bürgerrechte und Teilhabe einsetzt, ist in Diktaturen von Staats wegen bedroht. In Deutschland durchs Netz und die AfD, stellt eine Studie fest.

Polizei und Geheimdienste überwachen sie und schüchtern Mitarbeitende ein, ihre finanziellen Mittel werden blockiert, gern über hohe Geldstrafen, und Gesetze behindern ihre Arbeit oder verbieten sie ganz – so Putins Gesetz gegen "ausländische Agenten". Es gibt viele Methoden, wie Diktaturen – oder „illiberale Demokratien“ wie Viktor Orbáns Ungarn - gegen unbequeme demokratische Vereine und Initiativen vorgehen. 

Aber auch Demokratien sind nicht immun. Vor ein paar Jahren präsentierte der UN-Sonderberichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Maina Kiai in Berlin eine besorgniserregende Liste von Einschränkungen in erprobten Demokratien: Dass in der Schweiz 100.000 Franken zahlen müsse, wer auf Demonstrationen nicht sofort der Polizei gehorcht, dass Spanien das restriktivste Versammlungsrecht der Welt habe und verdeckte Ermittler in Großbritannien sich in Umweltgruppen und andere legale Organisationen einschleichen dürfen, was dort Misstrauen aller gegen alle säe und die Arbeit lahmlege.

Oder dass die Polizei in einigen US-Bundesstaaten ganz legal auf Schwarze Demonstranten einprügeln darf. Die traditionsreiche Londoner Bürgerrechtsorganisation IRR stellte vor drei Jahren zusammen, wie Seenotrettung, eine uralte Pflicht auf den Meeren, von immer mehr EU-Ländern als Schleusung kriminalisiert wird – die Crew des deutschen Schiffs "Iuventa" steht seit Samstag auf Sizilien vor Gericht, die Anklage gegen die Kapitänin und ihre Leute fordert 20 Jahre Haft.

Ständig unter Drohungen leben und arbeiten 

Demokratisches Engagement ist weltweit unter Druck. Und nicht allein durch staatliche Eingriffe. "Auch nichtstaatliche Akteure bedrohen die Zivilgesellschaft und beeinträchtigen so ihre Arbeit", schreiben zwei Forscher:innen des Berliner DeZIM-Instituts in einer soeben erschienenen Pilotstudie "Bedrohte Zivilgesellschaft". Diese Gefährdung habe die Forschung bisher noch kaum auf dem Schirm. Nora Ratzmann und Moritz Sommer haben dafür Daten unter den Initiativen und Vereinen erhoben, die das Bundesfamilienministerium im Programm "Demokratie leben" fördert – die also vom Staat selbst als förderungswürdig angesehen werden.

Wichtigstes Ergebnis: In Deutschland, wo es keine systematische Verfolgung der Zivilgesellschaft durch den Staat gibt, arbeiten Bürgerrechts-Engagierte dennoch vielerorts unter Bedingungen, die sie selbst und ihren Einsatz gefährdet. Mehr als zwei Drittel der Projektkoordinator:innen, die Ratzmann und Sommer befragten, gaben an, dass sie in den letzten zwölf Monaten konkrete Anfeindungen, Bedrohungen und Übergriffe in ihrem Arbeitsalltag erlebt haben.

Lediglich 16 der befragten 50 Organisationen hatten in dieser Zeit nichts derlei erlebt. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) nannten als häufigste Form der Bedrohung, dass ihre Arbeit diffamiert werde. Ebenfalls oft genannt (42 Prozent) wurden persönliche Abwertung und Beleidigung, etwa durch Hassrede in Sozialen Netzen. Ein gutes Viertel (26 Prozent) erlebt gezielte Versuche, sie einzuschüchtern, etwa, wenn sie sich auf "Todeslisten" wiederfinden oder Telefonterror ausgesetzt sind.

Die Drohungen begleiteten ihr Leben und ihre Arbeit ununterbrochen. "Es ist immer präsent", wird der Projektkoordinator einer Organisation zitiert, die sich für die Einwanderungsgesellschaft einsetzt. "ein Dauersummen von diesem Hass und von Beleidigungen und Bedrohungen."

Zielscheibe werden, so heißt es in der Studie, bevorzugt alle, die sich für eine vielfältige Gesellschaft einsetzen, für gesellschaftliche Teilhabe und gegen Rassismus, Antisemitismus und Feindseligkeit gegen Minderheiten wie queere Menschen. Die Hälfte der Befragten gibt zudem an, dass Sexismus oder Hass auf Feminismus "oft" oder "immer" mit im Spiel sei, wenn sie angegriffen würden.

Öffentliche Rückendeckung am dringendsten erwünscht

Die Aggression kommt dabei zum weit überwiegenden Teil von rechts und rechtsextrem. Jüdische Initiativen kennen aber auch Attacken von links, aus der antiimperialistischen Szene, und von islamistischer Seite. Verachtung von trans Personen zeigt auch die bürgerlich-konservative Mitte und münzt sie in Diffamierung gegen Vereine und Menschen um, die sich hier engagieren.

Als sehr konkrete Bedrohung auf mehreren Ebenen erscheint in den Interviews die AfD und deren Möglichkeiten, seit sie im Bundestag und in den Landtagen vertreten ist. Die zivilgesellschaftlichen Initiativen fürchten sie nicht nur als wichtigste Kraft, die die öffentliche Debatte nach rechts verschiebt. Mit parlamentarischen Anfragen setzt sie sie auch unter Druck, wenn sie ihr politisch nicht passen, sie meldet sich bei ihren Geldgeberinnen und Projektpartnern, was Nachfragen bei den Initiativen und zusätzlichen Rechtfertigungsdruck für sie bedeutet. Die Auseinandersetzung damit binde weitere knappe Mittel, Zeit und Geld, klagen die Befragten.

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Auch Versuche, juristisch gegen sie vorzugehen, seien teuer und zeitraubend.  "Außerdem äußern sich mehrere Studienteilnehmer*innen, die zu Themen der Einwanderungsgesellschaft arbeiten, besorgt über die Zukunft der Projekte, ihres Arbeitsplatzes und ihrer persönlichen Sicherheit, sollte die AfD durch die Übernahme von Ämtern erweiterte Zugriffsrechte auf interne Daten erlangen", schreiben die Forscher:innen. 

Welche Mittel sie gegen immer stärkere Angriffe sehen, fragten sie ebenfalls. Ergebnis: Mehr Polizei- und anderer handgreiflicher Schutz steht ganz am Ende der Wunschliste. Am häufigsten (85 Prozent) wünschen sich die demokratisch Aktiven dagegen "öffentliche Rückendeckung".

Es folgt die juristische: 79 Prozent finden, staatliche Förderung für sie berücksichtige nicht, dass auch die – juristische – Verteidigung gegen Angriffe koste; die müsse dann aus Mitteln bestritten werden, die eigentlich für Demokratieförderung ausgegeben werden sollen. 67 Prozent wollen auch bessere gesetzliche Grundlagen.

Die Studie verweist auf den Fall attac. Die Organisation, die sich für eine soziale und ökologische Globalisierung einsetzt, verlor 2014 ihre Gemeinnützigkeit. Aus Sicht des Bundesfinanzhofs arbeitet sie zu tagespolitisch. Attac hat dagegen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, über die noch nicht entschieden ist. 

"Schulen der Demokratie" - aber der demokratischen Staat hilft nicht

Der Staat ist also Mittäter, wenn er demokratisches Engagement für Vielfalt und Gleichheit nicht schützt. Nicht nur Unterdrückung wie in Diktaturen gefährde diese "Schulen der Demokratie", schreiben Nora Ratzmann und Moritz Sommer, sondern auch "politische Vernachlässigung". Das "veraltete deutsche Gemeinnützigkeitsrecht" sei ein Beispiel : "Derartige regulatorische Versäumnisse sind zweifellos eine der drängendsten Herausforderungen für das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft

in Deutschland." 

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