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Waren, Daten und Touristen bewegen sich schon längst rund um die Welt - jetzt suchen auch Menschen eine neue Heimat. Das Foto zeigt eine Einwohnerin eines Flüchtlingscamps im Libanon.

© Lucie Parsaghian/dpa

Zeitenwende in Europa: Das Ferne rückt uns jetzt hautnah

Deutschland ist 2015 zu Europas größtem Einwanderungsland geworden. Es muss dabei, inmitten der erschütterten Gemeinschaft, auch noch sein eigenes neues Gleichgewicht finden. Eine Analyse.

Ein Gespenst geht um in Europa. Nein, nicht mehr das des Kommunismus, das Karl Marx und Friedrich Engels mit diesem Satz einst erwartungsvoll begrüßt haben. Das Gespenst, das so viel Grusel und Entzücken auslöst wie alles Ungeheure, trägt manche Namen, und einer heißt wohl: Zeitenwende.

Das Gespenst ist auch ein Gefühl. Ein Gemisch aus Ahnung und wachsender Gewissheit, dass die Globalisierung und der Begriff „Weltinnenpolitik“ seit dem gerade vergangenen Jahr 2015 nun eine unmittelbare Dringlichkeit gewonnen haben, die weit über Warenströme, Fernreisen, Internetverbindungen oder politische Gipfeltreffen hinausreicht. Die das eigene, alltägliche Leben betreffen, beeinflussen, verändern wird.

Eine Zeitenwende bedeutete natürlich 1989/90. Mit dem Fall von Mauern und sozialistischen Systemen schien die Nachkriegszeit in einen neuen großen Frieden zu münden. Selbst der bald folgende Balkan-Krieg galt da im Prinzip nur als blutiger Störfall. Als Anachronismus. Von noch ungewohnterer Dramatik waren dann die Terroranschläge des 11. September mit ihren Folgen. Plötzlich las man ganz andere Zeichen der Zeit. Das alte Wort Menetekel stieg wieder auf wie aus mythischen Tiefen. Der Einsturz der Türme und später der Fall einer Bank und beinahe eines Bankensystems, gleichfalls in New York, der Weltmetropole: All dies waren Schocks, und die Nachbeben haben auch die Europäer gespürt.

Das Ferne rückt uns jetzt hautnah

Aber nicht durch Terror, erst mit der Million Flüchtlinge, hinter denen noch viele Millionen Menschen aus Not in Richtung der Reicheren, bislang Glücklicheren drängen, ist das Ferne aus den Außenweltnachrichten den Europäern, den Deutschen hautnah gerückt. Nie hatte ein Papst, hatten die Kirchen seit 1945 mehr Grund, die Weihnachtsgeschichte und die Neujahrsbotschaften als wieder aktuelle, nicht mehr nur rituelle Vorbilder und Mahnungen zu begreifen.

Apokalyptiker, Ideologen und Kulturpessimisten sehen in einer Zeitenwende vor allem ein Zeitenende. Der Dichter Botho Strauß empfindet sich, im Geist einer nationalkulturellen Romantik, bereits als „letzter Deutscher“. Von den völlig anderen, den fremdenfeindlichen Predigern hier einmal nicht zu reden. Aber auch das schiere Schwärmen von einer schönen neuen Welt der integrativ-friedvollen Multikultur birgt Illusionen. Mehr Rationalität, mehr menschliche Vernunft wären da angebracht.

Die eine Welt, die eine Menschheit - Idee der Aufklärung, Idee Europas

Europa hat nicht das Pulver erfunden. Aber es ist – neben allem kriegerischen Wahnsinn – auch der Kontinent der Aufklärung. Und die Aufklärung hat die Idee der einen Welt und einen Menschheit geboren, mitsamt dem Menschen- und Völkerrecht. Das bleibt die Leuchte des Abendlandes. Doch haben Menschen und Gesellschaften mindestens zwei Gesichter: Neben dem Gemeinschaftlichen besteht das Eigentümliche, Besondere, Individuelle. Je mehr von Globalisierung die Rede ist, gibt es auch die Glokalisierung: den Rückzug aufs Regionale, Lokale, Private. Beide Tendenzen ins Gleichgewicht zu bringen, ohne neue Abschottung und Ausgrenzung, ohne Separatismus und blinden Nationalismus, wäre Aufgabe einer sich wiederfindenden Europäischen Union.

Deutschland ist 2015 zu Europas größtem Einwanderungsland geworden. Es muss dabei, inmitten der erschütterten Gemeinschaft, auch noch sein eigenes neues Gleichgewicht finden.

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