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Beamte der Polizei bringen sichergestellte Gegenstände nach einer Razzia in einer Wohnung eines Mitglieds einer arabischen Großfamilie zu ihrem Auto.

© Paul Zinken/dpa

Zehn Fragen zur Organisierten Kriminalität in Berlin: Warum Tschetschenen-Banden gefährlicher sind als arabische Clans

Ein Senatsbericht zeigt: Drogen und Autos sind Geldquelle für das organisierte Verbrechen in Berlin. Wer steckt dahinter? Zehn Fragen und Antworten.

Erstmals hat Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) ein Lagebild zur Organisierten Kriminalität (OK), also zu auf Dauer angelegten, illegalen Geschäfte in Berlin vorgestellt. Ein Überblick.

Welche Banden sind aktiv und woher stammen die Täter?
462 Verdächtige hat das Berliner Landeskriminalamt vergangenes Jahr in OK-Verfahren erfasst. Fast zwei Drittel der Verdächtigen (63 Prozent) waren 2018 ausländische Staatsbürger, 9,7 Prozent der deutschen Tatverdächtigen hatten bei der Geburt noch eine andere Nationalität. Viele weitere einen weiter zurückliegenden Migrationshintergrund. Vor allem drei Gruppen bilden in Berlin den Schwerpunkt der organisierten Kriminalität in Berlin: Rocker, Arabische Clans und organisierte Kriminalität mit russisch-eurasischem Hintergrund, hier besonders tschetschenische Straftäter. Verdächtige finden sich aber auch aus Bulgarien, der Türkei, Polen, Russland, Ukraine, Litauen und Serbien.

Welche sind die gefährlichsten Gruppen?
Tschetschenische Banden fallen durch Waffenhandel, Drogen, Gewalt, Geldwäsche und Schutzgelderpressung auf – und agieren sehr abgeschottet. Besonders unter Tschetschenen, die in Berlin operieren, gibt es Überschneidungen zum Islamismus. Ermittler stellen einen „ungewöhnlichen Zusammenhalt“, ein „rigoroses Sanktionierungssystem“ und „eine bemerkenswert formelle wie informelle transregionale Vernetzung“ fest. Und schließlich einen ausgeprägten Ehrbegriff und eine geringe Akzeptanz staatlicher Autorität.

Tschetschenische Banden werden gern als „kriminelle Dienstleister“ angeheuert, wie Ermittler berichten. Im Auftrag anderer Banden übernehmen sie schmutzige Aufträge, etwa um Geld einzutreiben oder Opfer zu erpressen – vor allem innerhalb des Milieus. 2016 gab es die 30 Mann starke, von Tschetschenen dominierte Rockergruppe „Guerilla Nation“, die auch als „gewaltbereiter Vollstrecker“ auftrat.

Jüngstes Beispiel: Der El Zein-Clan verlangte vom derzeit erfolgreichsten deutschen Rapper Capital Bra eine halbe Million Euro plus Gewinnbeteiligung. Um Capital Bra aufzulauern und ausfindig zu machen, sollen Clan-Mitglieder die Dienste von Tschetschenen in Anspruch genommen haben.

Über das größte Problem mit den Tschetschenen sagen die Ermittler: Ein Teil der Tatverdächtigen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus dem Nordkaukasus und Zentralasien „verfügen über einschlägige Erfahrungen aus bewaffneten Konflikten“, haben eine hohe Gewalt- und Waffenaffinität.

Was ist Organisierte Kriminalität – und um welche Taten geht es?
Den aktuellen Zahlen zufolge ging es in Berlin meist um Autodiebstahl und Hehlerei, Drogen – vor allem Kokainhandel – und Zolldelikte, Dokumentenfälschungen und Zwangsprostitution. Die registrierten Schäden lagen bei 100 Millionen Euro, sagte Senator Geisel, die tatsächlichen Schäden seien wohl deutlich höher.

Neben diesen Straftatbeständen versuchten die Kriminellen , auch immer Einfluss auf Politik, Medien oder den öffentlichen Dienst zu nehmen. Erst kürzlich wurde ein Polizist verurteilt, der Ermittlungserkenntnisse an Kriminelle gegen Geld weitergegeben hatte. Welche Taten als Organisierte Kriminalität eingestuft werden, wägen Fahnder und Juristen ab. Meist wird Illegales als OK bezeichnet, wenn die Täter arbeitsteilig und dauerhaft Profite durch kriminelles Handeln machen und diese Beute in die legale Wirtschaft überführen wollen.

Wie viele Verfahren gab es?
In Berlin gab es 2018 insgesamt 59 Ermittlungskomplexe im Bereich Organisierte Kriminalität. Insgesamt 98,3 Millionen Euro Schaden und 16,4 Millionen Euro Erträge aus der OK wurden erfasst. Insgesamt wurden 12,1 Millionen Euro Vermögenswerte gesichert, allein 11,7 Millionen Euro durch die Berliner Polizei Im Vergleich zum Vorjahr ging die Eigentumskriminalität und die Kriminalität im Zusammenhang mit dem Nachtleben zurück. Rauschgiftschmuggel- und Handel sowie Fälschungskriminalität haben zugenommen.

Insgesamt waren es 59 Fälle, im Vorjahr 68. Die Berliner Behörden haben im vergangenen Jahr weniger Verfahren geführt als im Vorjahr. Die Zahl sank im Vergleich zum Vorjahr von 60 auf 49. Dagegen ist die Zahl der Ermittlungskomplexe, die von Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Zoll betreut werden, von acht auf zehn gestiegen.

Ist Clankriminalität mit arabischem Hintergrund Organisierte Kriminalität?
Nur zum Teil. Nicht jeder Täter aus einem der zwölf bundesweit bekannten Clans aus dem Libanon ist ein „Mafioso“. Arabische Großfamilien in Berlin fassen teilweise zwischen mehreren hundert bis zu mehreren tausend Familienmitgliedern, von denen die Polizei einen hohen Anteil als „auffällig“ einstuft.

Es gebe eine Reihe von Personen, die im Bereich OK auffällig seien, sagte Innensenator Geisel. Es gebe aber auch Familienmitglieder, die lediglich in der zweiten Reihe parkten oder mit Profilierungsfahrten auffallen würden. „Das ist nicht organisiere Kriminalität“, sagte Geisel, „es höhlt aber auch unseren Rechtsstaat aus, deshalb arbeiten wir mit der gesamten Palette des Rechtsstaates.“ Polizeipräsidentin Barbara Slowik ergänzte: „Wenn wir gegen Clankriminalität vorgehen, wollen wir in erster Linie gegen ein Dominanzverhalten und Regelverstöße vorgehen.

Das wollen wir so gesellschaftlich nicht mehr akzeptieren.“ Der Anteil an OK-Aktivität in Clans sei dann nochmal ein spezielles Feld. Zu den deutsch-arabischen Clans will Berlins Polizei im Frühjahr 2020 eine Extra-Analyse vorstellen, die die Resultate aus dem im Herbst 2018 verabschiedeten Fünf-Punkte-Plan vorgestellt werden sollen.

Warum ist das Lagebild politisch wichtig?
Die Opposition im Abgeordnetenhaus, leitende Ermittler und in Geisels SPD haben viele auf das Lagebild gewartet. Tenor: Endlich packe der rot-rot-grüne Senat das Problem in der Hauptstadt an. In der rot-rot-grünen Koalition wird immer wieder über die Phänomene „Clans“ und „OK“ debattiert: Die Linke lehnt den Term „Clankriminalität“ ab, er diskriminiere komplette Großfamilien. In dem Bericht wird deshalb von „Kriminalität durch Angehörige aus ethnisch abgeschotteten Subkulturen" gesprochen, gemeint sei aber eigentlich nur „Clankriminalität“, sagte Geisel. Mit dem Bericht kann er nun aber auch Personalzuzuwachs bei Polizei und LKA begründen. Allein das LKA bekommt 400 neue Stellen.

Warum ist es so schwer, Organisierte Kriminalität einzudämmen?
Organisierte Kriminalität findet meist im Verborgenen statt und erstreckt sich über internationale Grenzen hinweg. Polizeipräsidentin Barbara Slowik nannte daher die internationale Zusammenarbeit ein „scharfes Schwer gegen OK“, ohne die es heute nicht mehr möglich sei die kriminellen Strukturen aufzudecken.

Das betreffe die konkreten Straftaten, aber genauso die Frage, wohin das Geld fließt, das illegal erwirtschaftet wurde. Laudan sagte: „Mittlerweile gibt es kein OK-Verfahren mehr, in dem Finanzermittlung und Vermögensabschöpfung keine Rolle spielt.“ Doch die Verfahren sind kompliziert und zeitaufwändig, im Durchschnitt dauere ein Verfahren rund 18 Monate. Behördenintern wird als Beispiel dieser Fall angeführt: Aus einer Bank wurden 2014 mehr als neun Millionen Euro gestohlen. Ein Mann aus der Großfamilie Remmo wurde dafür verurteilt, das Geld nicht gefunden. Die Staatsanwaltschaft ließ 2018 dann 77 Immobilien beschlagnahmen, weil sie mit dem Geld gekauft worden sein könnten.

Welchen Stellenwert hat Drogenhandel in der Organisierten Kriminalität?
„Rauschgiftkriminalität ist das Schmiermittel der Organisierten Kriminalität“, sagt Sebastian Laudan, Leiter der LKA-Abteilung für Organisierte Kriminalität. Alle Netzwerke der OK seien auf die eine oder andere Weise damit verbunden. Laudan bezeichnete Berlin als Umschlagplatz des internationalen Drogenhandels, aber das Problem beträfe längst nicht nur die Hauptstadt: „Wir erleben gerade europaweit eine Koksschwemme ungeahnten Ausmaßes“, sagt Laudan.

Wie ist die Lage in anderen Bundesländern?
Berlin ist eine OK-Hochburg und liegt mit 59 Verfahren auf Platz drei hinter den Flächenstaaten Nordrhein-Westfalen (107) und Bayern (78). Im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist die Organisierte Kriminalität in Berlin also besonders verbreitet. In dem Lagebild aus Nordrhein-Westfalen wurde davor gewarnt, dass eine syrische und irakische Gruppen anderen Gruppen wie Clans Konkurrenz machen.

Polizeipräsidentin Slowik sagte, in Berlin gebe es bislang keine Anhaltspunkte dafür. Generell könne man im Bundesgebiet den Einfluss verschiedener Gruppen beobachten, die regional aufgeteilt sein. Während die italienische Mafia in Berlin kaum eine Rolle spielt, sei sie in Bayern deutlich vertreten. Dafür seien die Tschetschenen in Berlin besonders aktiv.

Was sagen die Polizeiverbände?
Die Polizeivertreter begrüßten einhellig die Veröffentlichung des OK-Lagebilds. Daniel Kretzschmar vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) sagte dazu: „Da viele OK-Delikte im Verborgenen geschehen, würde ein deutlicher Personalzuwachs sicherlich zu steigenden Fallzahlen, also einer Dunkelfelderhellung führen.“

Um Strukturen effektiv bekämpfen zu können, seien mehr Kompetenzen und technische Weiterentwicklungen nötig. Gemeint ist vor allem, eine volle Beweislastumkehr einzuführen, wie sie in Italien gilt. Seit einer Gesetzesänderung Juli 2017 ist es leichter geworden, zweifelhaftes Vermögen einzuziehen, wenn unklar ist, woher das Geld – oder die Mittel für hochwertige Autos, Häuser, Waren – stammen. Allerdings gilt in Deutschland keine volle Beweislastumkehr, weshalb die Gerichte entscheiden werden, ob einige der kürzlich von einem Clan konfiszierten Immobilien in staatlicher Hand bleiben werden.

Die Europäische Union (EU) hatte Deutschland zu schärferen Geldwäschebestimmungen gedrängt. „Deutschland ist bislang ein Geldwäscheparadies, da haben die internationalen Experten leider Recht“, sagte Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) kürzlich dem Tagesspiegel. „Ich gehe davon aus, dass der Bund die aktuellen EU-Geldwäscherichtlinien bis Jahresende in nationales Recht umsetzt.“

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