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Mit dem Frontalangriff auf die EU-Kommission leitet Jaroslaw Kaczynski, Parteichef der regierenden PiS, den Wahlkampf für Polens Parlamentswahl 2023 ein.

© Hubert Mathis/ZUMA Wire/dpa

„Zahn um Zahn“ im Streit um EU-Gelder: Polen droht, Ursula von der Leyen zu stürzen

Im Konflikt mit Brüssel um die Justizreform will die Regierungspartei PiS „alle Geschütze auffahren“ und EU-Entscheidungen per Veto blockieren. Eine Analyse.

Im Streit um die Auszahlung von 35,4 Milliarden Euro aus Brüsseler Kassen und die Rechtsstaatlichkeit polnischer Gerichte droht die nationalpopulistische Regierungspartei PiS nun mit dem Sturz der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Und mit der Absetzung der gesamten EU-Kommission.

Im Frühsommer hatte vieles auf einen Kompromiss hingedeutet, den Polens Präsident Andrzej Duda, der ebenfalls aus der PiS stammt, mit von der Leyen eingefädelt hatte. Demnach sollte Polen Zugeständnisse bei der umstrittenen Justizreform machen und Brüssel dafür 23,9 Milliarden Euro Zuschüsse und 11,5 Milliarden Euro Darlehen aus dem europäischen Wiederaufbaufonds freigeben, die Polen zur Ankurbelung der Wirtschaft nach der Coronakrise beantragt hatte.

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Doch nun eskaliert die PiS den Konflikt in einem bisher nicht gekannten Maß. Parteichef Jaroslaw Kaczynski warf von der Leyen zu Wochenbeginn im Internetportal der regierungsnahen Wochenzeitung „Sieci“ vor, sie habe „die Absprache gebrochen“. Warschau habe seinen Teil hingegen erfüllt.

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„Wir haben ein Maximum an gutem Willen gezeigt, aber unsere Zugeständnisse haben nichts eingebracht“, behauptete Kaczynski. „Es ist Zeit, die Lehren zu ziehen. Wenn die Kommission ihre Verpflichtungen gegenüber Polen in diesem Bereich nicht einhält, haben wir keinen Grund, unsere Pflichten gegenüber der EU zu erfüllen.“

PiS-Generalsekretär gibt "Zahn um Zahn" als Devise aus

Kurz darauf spitzte PiS-Generalsekretär Krzysztof Sobolewski weiter zu: Wenn die Kommission „Polen an die Wand drückt, bleibt uns nichts übrig, als alle Geschütze aufzufahren“. Er verwies auf die Devise „Zahn um Zahn“. Polen könne sein Veto nutzen, um Entscheidungen der EU zu blockieren.

Polen werde zudem Koalitionen mit anderen EU-Staaten bilden, um die Abberufung von der Leyens und ihrer ganzen Kommission zu erreichen. „Ich schließe nichts aus. Die Bandbreite unserer Möglichkeiten ist groß.“

[Mehr zum Konflikt der EU mit Polen und Ungarn bei Tagesspiegel Plus: Europapolitik der Ampelkoalition: Hart zu Ungarn, mehr Verständnis für Polen?]

Hintergrund ist der seit Jahren schwelende Streit um die Justizreform und die Frage, was Vorrang hat: EU-Recht oder nationales Recht? Nach Analyse namhafter Juristen möchte die nationalpopulistische Regierung die Selbstverwaltung des Gerichtswesens aufheben und dem Justizminister freie Hand geben, Richter zu disziplinieren oder gar zu entlassen und die Zuständigkeit für Verfahren nach ihrem Willen zu verteilen.

Ein solcher direkter politischer Durchgriff bedroht die Unabhängigkeit der Justiz. Und die ist ein Pfeiler der EU-Verträge.

Drei Bedingungen für die Auszahlung der Aufbaugelder

Polen argumentiert dagegen, die Organisation der Justiz liege allein in nationaler Zuständigkeit. Sie gehöre nicht zu den vergemeinschafteten Bereichen, in denen die Nationalstaaten die Kompetenz an die EU abgetreten haben.

In dem mit Duda ausgehandelten Kompromiss hatte von der Leyen drei Bedingungen gestellt: Polen müsse die Disziplinarkammer für Richter auflösen, die bereits entlassenen Richter wieder in ihr Amt einsetzen und es polnischen Richtern erlauben, sich an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu wenden. Dann werde die EU die Fördergelder aus dem Wiederaufbaufonds freigeben.

Die Auszahlung der Hilfsgelder ist nämlich mit einer Rechtsstaatklausel verknüpft. Deren Auslegung ist freilich ein weiterer Streitpunkt.

Eng betrachtet betrifft sie nur das Haushaltsrecht und zielt darauf ab, ob nationale Verfahren, in denen die korrekte Verwendung von EU-Mitteln geprüft wird, rechtsstaatlich ablaufen. Progressive Kräfte im Europäischen Parlament verlangen hingegen, dass alle Rechtsbereiche berücksichtigt werden, etwa auch das Familienrecht und die Stellung sexueller Minderheiten.

Streit um die Auslegung der Rechtsstaatklausel

Polens Parlament hatte im Juli Teile der Justizreform korrigiert. In einem Interview mit der polnischen Rechtszeitung „Dziennik Gazeta Prawna“ vor zwei Wochen hatte von der Leyen diese Korrekturen als unzureichend bewertet.

Bittere Gefühle löst ein weiterer Strang des jahrelangen Konflikts aus: die Verhängung von Strafgeldern wegen Nichtbeachtung des EU-Rechts und die Frage, ob die EU die aufgelaufenen Schulden Polens in diesem Bereich von auszuzahlenden Aufbaugeldern abziehen darf.

Diese Schulden summieren sich mittlerweile auf 280 Millionen Euro. Im Fokus steht ein Strafgeld von einer Million Euro für jeden Tag, an dem Polen dem EuGH-Urteil nicht nachgekommen ist, die Disziplinarkammer aufzulösen.

Die Drohung, eine Koalition zum Sturz der Kommission und ihrer Präsidentin von der Leyen zu bilden, klingt wenig realistisch. Die Drohung, EU-Entscheidungen per Veto zu blockieren, ist ernster zu nehmen. Wegen des Ukrainekriegs ist das äußere Bild der Geschlossenheit der EU als Wert an sich gewachsen.

In Polen steht 2023 zudem die Parlamentswahl an. Die PiS kann die 35,4 Milliarden Euro und die Projekte, die man daraus bezahlen kann, im Wahlkampf gut gebrauchen.

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