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Der Schulunterricht ist eines der umstrittensten Themen.

© imago images/Fotostand

Zahl der Infizierten und Toten steigt weiter: Ist der Lockdown zu light?

Der Lockdown will nicht so recht seine Wirkung zeigen. Geht es in der Wirtschaft zu locker zu? Braucht es striktere Vorgaben im Nahverkehr?

Mit zahlreichen Maßnahmen versucht die Politik, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. Doch die Zahl der Krankheitsfälle steigt und steigt – und damit die Zahl der Todesfälle. So verfestigt sich der Eindruck in Berlin, dass nicht genug getan wird – oder das Falsche.

Wie lange sollten die Schulen schließen?

Im Schulbereich wollte sich Berlin zunächst am weitesten von den Empfehlungen des Bundes entfernen: Während sich die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin darauf geeinigt hatten, die Schulen angesichts der Inzidenzwerte zunächst geschlossen zu lassen, plante Berlin zunächst, einen großen Teil der Schulen wieder zu öffnen: Bereits am Montag sollten geschätzt 100.000 Schüler zurückkommen.

Das sollte nicht nur für die unmittelbaren Abschlussjahrgänge gelten, sondern auch für weitere Klassenstufen, was rund ein Viertel der Berliner Schülerschaft betroffen hätte. Da es sich dabei um Jugendliche und junge Erwachsene handelt, die höhere Infektionswerte als die übrigen Altersgruppen haben, wurde diese Entscheidung der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) besonders kritisch gesehen. Charité-Virologe Christian Drosten sprach zuletzt von einem dreifach höheren Anteil an Infizierten in dieser Altersgruppe.

Zwar sollten die Schüler nur in halben Lerngruppen unterrichtet werden. Da insbesondere die Älteren aber vor den Schultoren meist ohne Maske zusammenstehen und quer durch die Stadt zu ihren Schulen fahren, sahen viele Lehrkräfte, Schulleitungen und inzwischen auch immer mehr Koalitionspolitiker sowie die CDU das Risiko als zu groß an.

Hinzu wäre gekommen, dass in den Schulen auch Mittagessen angeboten werden sollte, so dass sich die Schülerschaft auch dort gemischt hätte und die Ansteckungsgefahr gestiegen wäre. Ab dem 18. Januar sollten zudem die Jahrgangsstufen 1 bis 3 in halbierter Klassenstärke zurück in die Schulen kommen.

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Auch daran gab es vehemente Kritik, weshalb Scheeres am Freitagabend einlenkte. Die Präsenzpflicht an den Schulen bleibt in Berlin jetzt wie andernorts mindestens bis zum 25. Januar ausgesetzt. Allerdings können Schulleitungen in Absprache mit Eltern und Schulaufsicht ihre Schulen auf freiwilliger Basis ab 11. Januar öffnen. Auch das dürften Befürworter eines strengen Lockdown kritisieren.

Müssen im Nahverkehr striktere Vorgaben umgesetzt werden?

In der Stadt ist mehr los als während des ersten Lockdowns im Frühjahr. Das stellte selbst Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) in dieser Woche mit Sorge fest. Es zeigt sich auch in den S- und U-Bahnen, in der Tram und im Regionalverkehr – die Züge und Busse sind voller. Während im Privaten Kontakte beschränkt werden, Menschen nur aus triftigen Gründen die Wohnungen verlassen sollen, gibt es für den öffentlichen Nahverkehr keine Vorgaben, lediglich die Maskenpflicht.

Nach Angaben der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) liegt die Zahl der Fahrgäste aktuell bei der Hälfte des üblichen Niveaus vor der Pandemie. Im März, während des ersten harten Lockdowns, waren es nur 25 bis 30 Prozent – und die Bahnen und Busse weitaus leerer.

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Die Länderchefs hatten es in der Hand, auch beim Nahverkehr schärfere Regeln zu vereinbaren und nachzusteuern. Eine Expertin des Max-Planck-Instituts hatte gefordert, die Zahl der Fahrgäste auf 25 Prozent der verfügbaren Sitzplätze zu reduzieren, wie es etwa in Irland seit Oktober der Fall ist.

Dort dürfen wegen der hohen Infektionszahlen im Berufsverkehr nur noch Angehörige systemrelevanter Berufe – Klinikpersonal, Feuerwehr, Polizei – mitfahren. Und nur jeder vierte Platz darf besetzt werden. Auf der Insel führten die harten Regeln zu sinkenden Infektionszahlen.

In Berlin verweisen Verkehrsverwaltung und BVG darauf, dass solch strenge Vorgaben im hiesigen Nahverkehr nicht umsetzbar und nicht zu kontrollieren seien. Zudem hielten sich bis zu 98 Prozent der Fahrgäste an die Maskenpflicht. Nur die Abstandsregel von 1,50 Meter gilt in Bussen und Bahnen nicht. Lediglich im Fernverkehr achtet die Deutsche Bahn darauf, dass sich die Fahrgäste mit Abstand im Zug verteilen. Die Auslastung liegt laut Unternehmensangaben bei 20 bis 25 Prozent.

Geht es in der Wirtschaft zu locker zu?

Auf der Suche nach Schuldigen für die anhaltend hohen Infektionszahlen rücken auch die Arbeitgeber zunehmend in die Kritik. Der vor gut einer Woche gestartete Aufruf unter dem Schlagwort #MachtBueroszu der Berliner Grünen-Politikerin Laura Sophie Dornheim löste eine breite Debatte aus: Mehr als 100 konkrete Hinweise über Arbeitgeber, die Büro-Präsenz ihrer Mitarbeitenden erzwingen oder Homeoffice-Regelungen zumindest behindern, sind bei Dornheim eingegangen. Auf dieser Liste, die nur einen winzigen Teil der Arbeitgeberschaft abbildet, stehen auch Anstalten des Öffentlichen Rechts, Stiftungen, Behörden und sogar das Büro eines Grünen-Bundestagsabgeordneten.

Auch der Regierende Bürgermeister Müller hatte die Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden ins Büro beordern, zuletzt kritisiert. Verbandsvertreter weisen diese Anschuldigungen empört zurück: „Hier wird zulasten der ohnehin schwer gebeutelten Wirtschaft eine unfaire und einseitige Phantomdebatte geführt“, sagt Beatrice Kramm, Präsidentin der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK). „Unternehmer haben ein sehr vitales Interesse daran, dass die Beschäftigten sicher sind und sicher arbeiten können.“

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Wer seine Mitarbeiter ins Homeoffice schicken könne, tue dies – oder organisiere die Präsenzarbeit so, dass Ansteckungsrisiken minimiert werden, sagt Kramm. Auch könne nicht jede Tätigkeit ohne Weiteres ins Homeoffice verlagert werden. „Zudem gibt es eine Reihe von Beschäftigten, die zumindest gelegentlich lieber im Büro als zuhause arbeiten möchten.“

Christian Amsinck, Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg, spricht von dem „großen Maß an Flexibilität“, das die Arbeitgeber in der Krise zeigen. Drei von vier Unternehmen (76 Prozent) hätten zumindest für Teile der Belegschaft Regelungen zum mobilen Arbeiten getroffen, sagt er – und verweist auf Zahlen einer bundesweiten Analyse des Münchner Ifo-Instituts aus dem Sommer.

Damals zeigte sich, dass fast alle Firmen (97 Prozent) mit mehr als 500 Mitarbeitenden, Homeoffice möglich machen, aber nur 63 Prozent der kleineren Firmen mit bis zu 49 Beschäftigten. Eine IHK-Umfrage aus dem August hatte ergeben, dass rund 20 Prozent der Firmen Homeoffice für nicht möglich halten.

Immerhin zwei Drittel der Berliner Unternehmen würden aber auch mobiles Arbeiten ermöglichen. Nun im zweiten Lockdown und angesichts höherer Infektionszahlen dürfte der Anteil höher liegen, vermutet die Kammer.

Doch die Umfragen unter Unternehmen scheinen zu zeigen, dass viele Firmen durchaus auch die Vorteile von Homeoffice-Regelungen sehen – den einhergehenden Digitalisierungsschub zum Beispiel. Gesetzliche Regelungen lehnen ihre Mitgliedsunternehmen mehrheitlich ab. „Eingriffe des Staates wären deshalb völlig fehl am Platz“, sagt Amsinck.

Waren die Maßnahmen im Gesundheitswesen zu lasch?

Die Kliniken haben vergleichsweise früh Maßnahmen angeordnet, so wurden Rettungsstellen und Stationen aufgeteilt: für Corona-Patienten einerseits, für Nicht-Sars-CoV-2-Fälle andererseits. Besuche wurden eingeschränkt, inzwischen weitgehend untersagt. Die meisten Krankenhäuser haben planbare Operationen verschoben, um Ressourcen zu schonen.

Anders ist die Lage in Pflegeheimen, dort wurde – auch wegen der Vielzahl der Betreiber – verschieden streng auf die Pandemie reagiert. Besuchsverbote gab es lange nicht. Dies allerdings auch, weil branchenintern weitgehend unstrittig ist, dass das Virus oft durch Mitarbeiter in die Heime getragen wurde, nicht durch Besucher. Es sei in Berlin kein Fall nachgewiesen, in dem Gäste einen Heimbewohner infizierten, sagte am Freitag der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid.

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Nach tödlichen Ausbrüchen im Herbst setzen Heime nun massenhaft Schnelltests ein, bevor Personal und Besucher eingelassen werden. Diese Tests sind leicht handhabbar, aber fehleranfällig; öfter als die aufwendigeren PCR-Tests zeigen sie trotz Infektion ein negatives Ergebnis an.

Der Getestete fühlt sich sicher, verhält sich womöglich riskanter, könnte ergo (mehr) Menschen anstecken. Heimbetreiber, Pflegekräfte und Ärzte verweisen darauf, dass sozialpsychologisch geboten sei, denjenigen, die im Schnitt oft nur noch ein Jahr leben werden, nicht auch noch Besuche von Angehörigen zu verweigern. Inzwischen heißt es, inoffiziell auch von Einzelnen aus dem Senat, dass die Heime zu Pandemiebeginn nicht im Fokus standen, es dort nun aber besser laufe.

Bundesweit werden circa 80 Prozent der Pflegebedürftigen gar nicht in Heimen versorgt, sondern Zuhause. Dort wiederum kümmern sich oft Angehörige, die – verständlicherweise – nicht von den Behörden kontrolliert werden. Aber auch Regeln für ambulante Pflegedienste fehlen weitgehend.

Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (BpA) kritisiert: „Die Länder haben weder ein einheitliches Konzept zur Umsetzung der Impfungen der ambulanten Pflegekräfte noch für die große Mehrheit der zu Hause lebenden pflegebedürftigen Menschen.“ Dabei böten sich ambulante Dienste so wie Heime und Kliniken als Impf-Orte an.

In Berlin ebenfalls noch nicht geimpft: Leasingkräfte, auf die viele Krankenhäuser und Altenheime angewiesen sind. „Neben der aufwendigen Terminvereinbarung für jeden Einzelnen ist Schlange stehen angesagt, obwohl die Pflegekräfte händeringend in der Pflege benötigt würden“, sagte BpA-Chef Bernd Meurer. In Deutschland sind mehr als vier Millionen Menschen pflegebedürftig.

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