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Deal oder kein Deal lautet die entscheidende Frage für Premier Boris.

© Hannah McKay/REUTERS

Zähe Verhandlungen über EU-Austritt: Brexit-Einigung steht auf auf Messers Schneide

Ob Boris Johnson eine Einigung mit Brüssel gelingt, ist noch immer offen. Immer klarer wird: Das Austrittsdatum 31. Oktober wird schwer zu halten sein.

In der ebenso hektischen wie hoffnungsvollen Brexit-Endzeitstimmung wiederholten sich am Mittwoch in London und Brüssel Vorgänge aus dem Herbst der vergangenen beiden Jahre. Wie damals seine Vorgängerin Theresa May verbrachte auch der amtierende Premier Boris Johnson viel Zeit mit den Abgesandten der nordirischen Unionistenpartei DUP. Deren Zustimmung zu einer Vereinbarung mit Brüssel, so scheint es, hängt von der Zahlung einer Milliardensumme ab. In Brüssel wollte am späten Mittwochnachmittag Chefunterhändler Michel Barnier seine Einschätzung vor dem EU-Gipfel abgeben, der an diesem Donnerstag beginnt.

Alle Beteiligten stehen unter Zeitdruck, weil der britische EU-Austritt zum Monatsende erfolgen soll. Allerdings sprechen immer mehr Experten davon, das avisierte Datum 31. Oktober werde auch dann nicht einzuhalten sein, wenn es tatsächlich zur Einigung kommt. Das liegt daran, dass im Unterhaus eine Reihe technischer Gesetze verabschiedet werden müsste, um die Rechtssicherheit auf beiden Seiten zu gewährleisten.

Premier Johnson hat das Land auf den 31. Oktober eingeschworen. Eine kurzzeitige Verlängerung um höchstens drei Monate „könnte er vielleicht gerade noch als technische Verlängerung verkaufen“, sagt Tim Bale von der Londoner Queen- Mary-Universität. Zuvor aber muss die Einigung mit Brüssel gelingen. Weil die Beteiligten bis Mittwochnachmittag Stillschweigen verabredet hatten, beschränkten sich Experten in London am Mittwoch auf Mutmaßungen. Allem Anschein nach werde der erste Teil des Austrittsabkommens unversehrt bleiben, sagt Catherine Barnard von der Uni Cambridge. Darin geht es um die Zahlungen des Königreichs in die Gemeinschaftskasse; der vor Jahresfrist gehandelte Betrag von netto 39 Milliarden Euro dürfte durch die seither geleisteten Mitgliedsbeiträge geschrumpft sein.

Kompetenzen für den Europäischen Gerichtshof

Als wenig kontrovers gelten auch die Regelungen zur Übergangsphase bis Ende 2020 sowie zur rechtlichen Situation der mehr als 3,5 Millionen EU-Bürger, die teilweise seit Jahrzehnten auf der Insel leben. Höchstens die Passagen, die in Konfliktfällen noch mehrere Jahre dem Europäischen Gerichtshof bestimmte Kompetenzen einräumen, könnten unter Brexiteers für Aufregung sorgen.

Deren Zustimmung dürfte aber weitgehend davon abhängen, wie das neue Abkommen die zukünftige verfassungspolitische Stellung Nordirlands regelt. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die britische Provinz zwar de jure mit dem Rest des Königreichs aus der EU-Zollunion austritt, de facto aber in einem Zollverein mit der Republik im Süden und damit auch der EU verbleibt. Die beteiligten Regierungschefs gaben sich optimistisch. Nach einem zehnminütigen Telefonat mit Johnson sprach Irlands Premierminister Leo Varadkar davon, ein Deal sei noch am Mittwoch machbar. Die Vereinbarung könne dann vom Europäischen Rat ratifiziert werden, um den Weg für Abstimmungen im Europaparlament und im Unterhaus freizumachen. Allerdings ließ Varadkar die Möglichkeit offen, dass es wegen der Komplexität des Austrittsvertrags und der dazugehörigen politischen Erklärung über die künftigen Beziehungen einen weiteren Brexit-Gipfel noch in diesem Monat geben werde.

„Es geht nur um die nächste Wahl, nicht um den Brexit“

In London konzentriert sich die politische Debatte auf das Abstimmungsverhalten im Unterhaus. „Dabei geht es nur um die nächste Wahl, nicht um den Brexit“, sagt Anand Menon, Direktor des Thinktanks „UK in a changing Europe“. Zwar ist das Überleben von Johnsons Minderheitsregierung nicht mehr von den zehn DUP-Abgeordneten im Unterhaus abhängig, weil er 21 Liberalkonservative aus der eigenen Fraktion geworfen hat. Die Einschätzung der nordirischen Unionisten beeinflusst aber die Haltung der Brexit-Hardliner innerhalb der Tory-Fraktion. Die etwa drei Dutzend Mandatsträger starke Gruppierung ERG lehnte den von May ausgehandelten Austrittsvertrag dreimal ab; diesmal dürften die meisten Johnson folgen, sobald dieser die DUP an Bord gebracht hat. Helfen könnte dabei die Drohung, man werde mit den Brexit-Ultras ebenso verfahren wie mit den Liberalkonservativen: Wer nicht spurt, fliegt aus der Fraktion und darf bei der kommenden Wahl nicht mehr als Konservativer antreten.

Erstaunlicherweise hat Johnson keine erkennbaren Anstrengungen unternommen, schwankende Labour-Abgeordnete auf seine Seite zu ziehen. Dabei haben rund zwei Dutzend Mandatsträger unter Führung von Caroline Flint und Stephen Kinnock, Sohn des früheren EU-Kommissionsvizepräsidenten, ihre Kompromissbereitschaft signalisiert. Allesamt vertreten sie Wahlkreise im Unterhaus, die 2016 mehrheitlich für den EU-Austritt gestimmt hatten.

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