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Wolfgang Schäuble ist seit Oktober Präsident des Deutschen Bundestages.

© Thilo Rückeis

Wolfgang Schäuble: "Schreierei und Beschimpfungen schwächen die Demokratie"

Der Bundestagspräsident mahnt Union und SPD im Interview zu zügigen Koalitionsgesprächen - und fordert die AfD auf, für Parlamentsämter konsensfähige Kandidaten zu benennen.

Herr Bundestagspräsident, Sie sind nicht nur der erfahrenste Parlamentarier, sondern jetzt auch protokollarisch zweiter Mann im Staat. Was ist Ihre Botschaft an die Bürger zum Jahreswechsel?

Dass wir dankbar sein können für das, was wir in unserem Land haben. Dass wir bessere Möglichkeiten besitzen, unsere Probleme zu lösen, als die meisten Menschen auf der Welt. Dass wir deswegen aber auch eine große Verantwortung für diese Welt haben. Wenn wir uns vor den Veränderungen nicht fürchten, sondern sie als Herausforderung begreifen, brauchen wir nicht zu resignieren. Deswegen möchte ich, dass die Menschen mit Hoffnung und Zuversicht in das neue Jahr gehen – und zugleich in dem Wissen, dass große Herausforderungen auf uns zukommen. Sich zurückzulehnen in Zufriedenheit, schafft schnell Probleme. Die Aufgaben werden uns nicht ausgehen.

Zum Jahreswechsel ist die wirtschaftliche Lage in Deutschland recht gut, die öffentlichen Haushalte verzeichnen Überschüsse. Gleichzeitig beginnt das Jahr ohne neue Bundesregierung. Auf was müssen wir uns angesichts dessen 2018 einstellen?
Erst an Silvester weiß man, ob das Jahr so verlief, wie man am Neujahrstag glaubte. Es verläuft nicht immer so. Nehmen Sie 2014: Es ging um den hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und die Frage eines angemessenen Gedenkens. Auch darum, wie dankbar wir sein können, nicht in solchen Zeiten zu leben. Und dann wurde die Krim besetzt. Alles war plötzlich ganz anders. Ich schaue aber optimistisch in das Jahr 2018. Die Demoskopen ermitteln derzeit so hohe Zufriedenheitswerte wie selten, auch mit Blick auf das kommende Jahr. Allerdings war das auch vor der Bundestagswahl so. Das Ergebnis hat uns in den Regierungsparteien daher überrascht.

Und die Verantwortlichen mühen sich nun seit Monaten, eine neue Bundesregierung auf die Beine zu stellen …
Niemand, selbst unter den unmittelbar Beteiligten, würde sich hier nicht mehr Geschwindigkeit wünschen. Die Wahl hat aber den Widerspruch ergeben, dass diejenigen, die bisher regiert haben und somit auch für die wirtschaftlich stabilen Verhältnisse mitverantwortlich sind, weniger gut abschnitten als erhofft. So war es naheliegend, dass zunächst versucht wurde, eine Jamaika- Koalition zu bilden. Die SPD hat diese Gespräche zwischen Union, FDP und Grünen übrigens befürwortet. Dass die Jamaika-Sondierungen schließlich gescheitert sind, hat auch mich überrascht. Man kann verstehen, dass die SPD nun etwas Zeit braucht. Auch die CSU musste erst einmal ihre inneren Verhältnisse klären, was ja nun ganz gut gelungen ist. Also schauen wir zuversichtlich in die kommenden Wochen.

Nun sind Sie derzeit Präsident eines Parlaments im Stand-by-Modus. Da muss doch irgendwann der Punkt erreicht sein, an dem man sagt: Jetzt muss eine Regierung aber mal stehen.
Lieber früher als später, das ist klar. Wir haben ein parlamentarisches Regierungssystem, und das bedeutet, dass sich eine Regierungsmehrheit im Parlament bilden muss. So lange das nicht passiert, ist das Parlament nicht vollständig aktionsfähig. Wir haben 709 Abgeordnete, die sich noch nicht klar geworden sind, wer regieren soll.

Wobei das Sondieren und Verhandeln ja die Parteiführungen übernehmen, in denen viele gar kein Bundestagsmandat haben. Wären wir nicht weiter, wenn man das den Fraktionen überlassen würde?
Es war früher so, dass die Fraktionen stärker waren als die Parteien. Das hat sich im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik verschoben. Aber der Bundespräsident hat nicht nur mit den Parteivorsitzenden gesprochen, sondern auch mit den Fraktionsvorsitzenden. Auch die Vorab-Sondierungen, die nun zu den Gesprächen zwischen CDU, CSU und SPD geführt haben, wurden mit den drei Fraktionschefs geführt. Dafür habe ich intern geworben. Der Bundestag ist also nicht außen vor.

Der Bundestagspräsident ist also noch geduldig, aber im März sollte eine Regierung stehen?
Wenn der Bundestagspräsident nicht geduldig wäre, könnte er auch nicht viel ändern. Der Bundespräsident hat die Beteiligten zurecht gemahnt, möglichst schnell zu einem Ergebnis zu kommen. Ich sage das ebenfalls. Aber auch Frau Merkel, Herr Schulz und Herr Seehofer wissen, dass wir zügig zu einer Regierung kommen sollten.

Muss die Union denn auf Teufel komm raus eine große Koalition anstreben?
Es gibt gute Gründe dafür, jetzt eine Regierung mit einer berechenbaren Mehrheit im Parlament zu bilden. Da es im Bundestag nicht viele Möglichkeiten gibt, eine stabile Mehrheit zu bekommen – schon gar nicht nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche –, muss man jetzt alles darauf setzen, eine Regierung aus CDU/CSU und SPD zu bilden.

Wäre denn eine schwarz-grüne Minderheitsregierung wirklich so instabil?
Ich möchte da als Bundestagspräsident keine Ratschläge erteilen. Das Grundgesetz will streng genommen keine Minderheitsregierungen, sondern zielt auf stabile Mehrheiten. Aber wenn ein Kanzler gewählt ist, dann ist er im Amt und hat seine Möglichkeiten. Es würde also so oder so gehen. Aber vorzuziehen ist jetzt ein stabiles Bündnis von Union und SPD.

Ein wichtiges Thema in den Koalitionsgesprächen wird die Zukunft Europas sein …
Das hoffe ich.

Die SPD möchte, dass sich eine künftige Bundesregierung den Reformvorschlägen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zumindest nähert. Jetzt hat Herr Schulz gefordert, schon 2025 sollte es die Vereinigten Staaten von Europa geben, also eine deutlich engere Föderation als jetzt. Was hält der Europäer Wolfgang Schäuble davon?
Ich bin bekanntlich davon überzeugt, dass wir ein stärkeres Europa brauchen. Aber die Menschen überall in Europa haben in diesen Zeiten der unglaublich schnellen und grundlegenden Veränderungen offenkundig das Bedürfnis, auch ein Stück weit Halt zu finden in ihren nationalstaatlichen Traditionen. Und da wäre es falsch, ihnen dieses Gefühl der Versicherung oder Rückbindung an das Nationale zu nehmen. Also muss man Europa stärken, indem man hier den richtigen Weg findet. Die Formulierung, man wolle jetzt die Vereinigten Staaten von Europa innerhalb von fünf Jahren, und die Staaten, die nicht mitmachen, fliegen raus, ist etwas verkürzt, um es freundlich zu formulieren.

Und wie steht es um Macrons Vorschläge? Mehr Kooperation bei Zuwanderung und Sicherheit, ein Euro-Budget, überhaupt eine Stärkung der Union?
Die bisherige Bundesregierung, und zwar in Gänze, hat Macrons Vorstellungen mit Zustimmung aufgenommen. Sie laufen nicht auf einen institutionellen Umbau der EU hinaus, sondern sind der Versuch, ohne Vertragsänderungen weiterzukommen. Diesen Ansatz unterstütze ich. Es gibt Probleme, die sich national nicht mehr lösen lassen: Migration und damit auch Integration, innere und äußere Sicherheit, die Wirtschafts- und Währungspolitik. Hier müssen wir auf einer realistischen Basis weiterkommen. Das Pesco-Projekt für eine engere militärische Kooperation innerhalb der EU etwa sehe ich sehr positiv. Nun sollten wir die Währungsunion weiter stabilisieren und die Bankenunion vertiefen. Darauf wird sich auch eine neue Koalition von CDU/CSU und SPD verständigen. Da bin ich ganz sicher.

Angesichts der Brexit-Entscheidung und der von Ihnen angesprochenen Rückkopplung an das Nationale: Bräuchte die EU nicht so etwas wie eine Ruhepause beim Integrieren und Voranschreiten?
Nein, die Welt erlaubt keine Ruhepausen. In der Sicherheitspolitik schon gar nicht. In der Migrationspolitik auch nicht. Die Entwicklung in Afrika, in unserer direkten Nachbarschaft, ist eine existenzielle Herausforderung für Europa, die keine Ruhepause zulässt. Wie sichern wir unsere Außengrenzen und wie übernehmen wir gleichzeitig Verantwortung für diese Nachbarschaft? Das lässt sich nicht aufschieben. Die USA haben vor Weihnachten eine Steuerreform gemacht, die auch uns in Europa betrifft. Die Frage, wie wir die globalisierten Märkte stabilisieren, muss uns weiter beschäftigen. Es ist immer gefährlich, sich in vermeintlich ruhigen und wirtschaftlich guten Zeiten auszuruhen.

Ihr Parlamentsvize Thomas Oppermann von der SPD sieht es als einen positiven Effekt des Einzugs der AfD, dass die anderen Fraktionen jetzt im Plenum präsenter sind. Stimmen Sie zu?
Es stimmt: In den ersten Sitzungswochen der neuen Legislaturperiode war die Präsenz im Plenum viel stärker. Ob das damit zu tun hat, dass wir jetzt sechs Fraktionen haben, oder eher damit, dass wir noch keinen normalen Parlamentsbetrieb haben, kann man nicht abschließend beurteilen. Aber Herausforderungen sind immer auch Chancen. Wenn der Einzug der AfD dazu führt, dass wir Abgeordnete wieder stärker zeigen, dass im Plenum die Sache der Bevölkerung verhandelt wird, dann ist das ja nicht schlecht.

Verändert sich denn die Debattenkultur im Bundestag jetzt tatsächlich?
Bei sechs Fraktionen haben die einzelnen Parteien und auch die Abgeordneten kürzere Redezeiten. Der erste Eindruck ist, dass diese kürzeren Beiträge manchen Debatten mit sehr viel längeren Redezeiten nicht nachstanden. Wir sind uns jedenfalls alle einig darüber, dass die parlamentarischen Debatten in der letzten Legislaturperiode hätten besser und attraktiver sein können.

Ein bisschen mehr verbale Rauferei fänden Sie nicht schlecht?
Wir dürfen uns aber auch nicht prügeln, das habe ich auch gesagt. Es muss seine Grenzen haben. Da sind wir uns auch im Präsidium einig. Die Auseinandersetzungen dürfen lebhaft sein, auch in der Sache hart, aber durch Schreierei und gegenseitige Beschimpfungen wird die Demokratie geschwächt.

Die Linken-Abgeordnete Christine Buchholz hat die AfD im Plenum rassistisch genannt. Sie haben sie ermahnt. Was passiert denn, wenn das nächste Mal im Plenum die AfD rassistisch genannt wird?
Das ist eine schwierige Frage. Wir waren uns im Ältestenrat einig, dass wir solche Eskalationen möglichst vermeiden wollen. Ich habe in der konkreten Situation den Konflikt auch dadurch gelöst, dass ich dem Kollegen von der AfD die Möglichkeit gegeben habe, in einer Kurzintervention zu erklären, warum seine Partei sich nicht als rassistisch versteht. Ich glaube, dass diese Vorgehensweise besser ist, als wenn jemand beurteilt, ob eine solche Aussage wie die von Frau Buchholz noch parlamentarisch zulässig ist oder nicht.

Es ist eine parlamentarische Tradition, dass der Vorsitz im Haushaltsausschuss immer an die größte Oppositionsfraktion geht. Sollte es mit der Groko klappen, dann würde diese Position der AfD zufallen. Spricht etwas dagegen?
Wir haben ein breites Einvernehmen, dass wir alle Fraktionen gleichbehandeln. Es ist auch nicht infrage gestellt worden, dass alle Fraktionen einen Vizepräsidenten haben können. So ist die Tradition. Aber diese besagt eben auch, dass jede Fraktion für ihren Vorschlag eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestags braucht. Jede Partei muss sich deshalb darum bemühen, einen zustimmungsfähigen Vorschlag zu machen. Wir müssen demnächst auch das Parlamentarische Kontrollgremium besetzen, das für die Geheimdienste zuständig ist. Da müssen die Mitglieder ebenfalls mit der Mehrheit der Abgeordneten des Bundestags gewählt werden. Wenn die Fraktionen hier Beratung brauchen, steht das Bundestagspräsidium ihnen mit seiner langen Erfahrung zur Verfügung.

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