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Allein auf sich gestellt: Ein obdachloser Mann im S-Bahnhof Rosenthaler Platz.

© Rolf Zöllner / epd/ imago

Wohnungslose in Not: Wie Berlin obdachlose Rollstuhlfahrer im Stich lässt

Unter Berlins Bedürftigen gehören Rollstuhlfahrer zu den Ärmsten. Nun sollen Menschen wie Guido du Maire gezählt werden. Ändern dürfte sich dadurch kaum etwas.

Guido du Maire hat seinen Teller mit Eintopf auf dem Biertisch abgestellt. Er isst mit langsamen Bewegungen, eine weinrote Skijacke umhüllt seinen Körper. Auf dem Kopf trägt er eine schwarze Schirmmütze. Es ist 22 Uhr 30, ein Montag im Januar. Guido du Maire, 53 Jahre alt, wird nach dem Essen noch ein bisschen herumfahren, ein paar Meter nur. Und dann hierher zurückkehren. „Ich werde an diesem Tisch schlafen“, sagt er. Im Rollstuhl.

Die Traglufthalle an der Frankfurter Allee in Friedrichshain, Notübernachtung der Stadtmission für Obdachlose, hat 120 Plätze. Jeder, der hier ein Quartier findet, hat um seinen rechten Arm ein gelbes Band. Auf jedes Band haben Helfer Zahlen geschrieben, Hinweise, in welchem Zimmer und in welchem Bett jemand liegt. Es gibt geistig verwirrte Menschen, die nachts aufstehen und Sekunden später nicht mehr wissen, wo sie geschlafen haben. Auf dem Band von Guido du Maire steht: „ohne Bett“.

Ganz unten. Guido du Maire lebte fünf Jahre auf der Straße, als er in ein Gleisbett fiel, seinen Fuß verlor.
Ganz unten. Guido du Maire lebte fünf Jahre auf der Straße, als er in ein Gleisbett fiel, seinen Fuß verlor.

© Davids/Sven Darmer

Guido du Maire sieht älter aus als die 53 Jahre, die er alt ist. „Zu viel Drogen, zu viel Alkohol“, sagt er. Er lebte schon fünf Jahre auf der Straße, als er am 24. Januar 2019 im Vollrausch in ein Gleisbett stolperte und eine einfahrende U-Bahn ihm einen Teil seines linken Fußes abtrennte. „Ich hatte irrsinniges Glück, ich habe überlebt, das ist entscheidend“, sagt er.

Aber sich alleine in einem Bett aufrichten, das kann er nicht. „Ich bin ein starker Raucher“, sagt er. „Nachts werde ich immer wieder wach, weil ich kaum Luft bekomme.“ Du Maire ist nicht sonderlich schwer, 70 Kilogramm vielleicht, es wäre kein Problem, ihn aus einem tiefliegenden Bett hochzuheben und in den Rollstuhl zu setzen. Das Problem ist, dass im Zweifelsfall keiner da ist, der es macht. Hinlegen ist ihm zu gefährlich.

Wie viele im Rollstuhl sitzen? Das weiß keiner so genau

Die Nachtschicht in der Traglufthalle, die gegen Mitternacht beginnt, bestreiten drei Helfer. Sie sind verantwortlich für 120 Personen. Sie kümmern sich um Menschen, die psychische Probleme haben, Menschen mit erhöhtem Pflegebedarf. Begleiten Neuankömmlinge, die mit dem Kältebus gebracht werden, zum Duschen. Helfen Rollstuhlfahrern auf die Toilette, wechseln Windeln. Die Helfer können nicht garantieren, dass sie Guido du Maire sofort in den Rollstuhl setzen, wenn er keuchend aufwacht. Also schläft der 53-Jährige lieber im Sitzen.

Obdachlose Rollstuhlfahrer, das ist ein Riesenproblem, für alle, für die Betroffenen, aber auch die Helfer. Von allen Bedürftigen, die auf der Straße leben, leiden Rollstuhlfahrer am meisten. Knapp 1200 Übernachtungsplätze für Obdachlose bietet die Kältehilfe in der Winterperiode an. Keine 20 davon sind für Rollstuhlfahrer auch nur annähernd geeignet.

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Weil niemand so genau weiß, wie viele Obdachlose in Berlin leben, weiß auch niemand, wie viele von ihnen im Rollstuhl sitzen. Doch nur wer einen Überblick hat, kann Abhilfe schaffen, Straßensozialarbeit und Beratungsangebote verbessern.

Damit mehr Klarheit herrscht, sollen am 29. Januar in der „Nacht der Solidarität“ 3700 ehrenamtliche Helfer in der ganzen Stadt ausschwärmen und die Obdachlosen zählen. Die Senats-Sozialverwaltung, die die Zählung organisiert hat, will auch wissen, welche Sprache die Obdachlosen sprechen, wie viele Frauen und Minderjährige darunter sind.

„Wir stoßen hier an die Grenze der Menschenwürdigkeit“

Wird sich danach etwas ändern für Guido du Maire?

In der Traglufthalle hängt an einer Trennwand ein Spiegel mit verschnörkelter Messingfassung. Ein älterer Mann sitzt davor in einem Drehstuhl und begutachtet sich kritisch, während man ihm die Haare schneidet. Ein Kickertisch steht neben einer Gartenbank, die von Topfpflanzen umrahmt wird. Und unter einem Sonnensegel plaudern zwei Männer auf einer Ledercouch. Einen Moment lang wirkt die Halle behaglich.

Jana Grösche sitzt an einem Biertisch wie dem, an dem du Maire seinen Eintopf gelöffelt hat, eine schmale, fast zarte 28-Jährige. Erst vor wenigen Tagen habe sie einen Rollstuhlfahrer, durchgefroren, schwer alkoholisiert, geschätzt 160 Kilogramm schwer, ins Bett bringen müssen, sagt sie. Der Kältebus der Stadtmission hatte ihn gebracht. Allein schaffte es Jana Grösche nicht, drei Frauen mühten sich verzweifelt, den Mann vom Rollstuhl ins Bett zu hieven. Seine Kleidung war volluriniert, aber sie schafften es nicht, ihn auch unter die Dusche zu stellen, erzählt sie. „Was macht das seelisch mit einem Ehrenamtler, der einen Rollstuhlfahrer ins Bett kippen muss?“, fragt sie. „Und wenn ich kippen sage, meine ich kippen.“

In jener Nacht gab es fünf weitere Rollstuhlfahrer in der Traglufthalle. Drei andere Männer, einer davon 130 Kilo schwer, hätten ebenfalls von jeweils drei Helfern ins Bett gebracht werden müssen. In der Schicht bis Mitternacht sind zehn bis zwölf Mitarbeiter in der Halle, meist Frauen. Drei Personen beanspruchten ein Viertel der Helfer.

Sabrina Bieligk, die Leiterin der Notübernachtung an der Frankfurter Allee, schrieb nach diesem Abend ein Protokoll. Es liest sich wie ein Hilfeschrei. „Als Team können wir das körperlich und auch seelisch nicht mehr bewältigen“, notierte sie. „Wir stoßen hier an die Grenze der Menschenwürdigkeit.“

Es fehlt an allem: Personal, Ausrüstung, Platz

Ulrich Neugebauer, Leiter der Kältehilfe bei der Stadtmission, sagt verbittert: „Wir haben ein paar Aufbewahrungsmöglichkeiten, um Rollstuhlfahrer vor dem Erfrieren zu bewahren.“ Aufbewahrungsmöglichkeiten! Deutlicher kann man Frust nicht ausdrücken.

Eine dieser „Aufbewahrungsmöglichkeiten“ befindet sich an der Lehrter Straße in Mitte. Hier hat die Stadtmission ihre Zentrale und 120 Notübernachtungsplätze. In einer Ambulanz versorgen ehrenamtliche Ärzte kostenlos kranke Obdachlose. Das Wartezimmer ist etwa zwölf Quadratmeter groß. Nachts schlafen hier drei Rollstuhlfahrer auf Feldbetten. Jeder weitere muss im Sitzen schlafen – für ein zusätzliches Bett fehlt der Platz.

Swetlana Krasovski-Nikiforovs ist die leitende Krankenschwester der Ambulanz. Sie zählt auf, was fehlt. „Wir bräuchten Pflegebetten, die man hochpumpen kann. Jetzt müssen wir die Menschen auf die Feldbetten legen, das ist schlecht für die Betroffenen, aber auch für den Rücken der Helfer.“ In ganz Berlin gibt es keine Tragelifte in Notunterkünften, Vorrichtungen, mit denen Rollstuhlfahrer umgesetzt werden könnten, vom Rollstuhl auf die Toilette zum Beispiel. Diese Arbeit müssen Ehrenamtler übernehmen, oft Studenten, die keine Pflege-Ausbildung besitzen. Überall fehlt Personal. In der Ambulanz ist bis Mitternacht ein Helfer, danach schaut nur zeitweise jemand vorbei, der eigentlich in der Notübernachtung arbeitet.

29 Notübernachtungen sind im „Wegweiser der Berliner Kältehilfe“ verzeichnet, gerade mal sechs davon sind barrierefrei oder -arm. Also fährt der Kältebus der Stadtmission, der Obdachlose einsammelt, meist die Traglufthalle an. Jana Grösche fährt am Biertisch mit einem Kugelschreiber über eine Zahlenreihe. „Am 16. Dezember hatten wir neun Rollstuhlfahrer, am 17. dann zwölf und am 18. acht.“

„Im schlimmsten Fall machen die Menschen ins Bett“

Die Halle hat eine behindertengerechte Toilette, aber die nützt wenig, wenn es nicht genügend Helfer gibt, um Betroffene zu begleiten. „Im schlimmsten Fall“, sagt Sandra Bieligk, „machen die Menschen ins Bett“. Doch natürlich wird auch der 13. Rollstuhlfahrer nicht abgewiesen. Aber „was ist bei einem Brand?“, fragt Bieligk.

Die Mitarbeiter im Kältebus treffen auch Rollstuhlfahrer, die auf der Straße bleiben wollen. Manche haben Angst, dass ihr Platz am nächsten Tag weg ist oder dass sie in der Notunterkunft bestohlen werden. Nur wenn jemand erkennbar verwirrt oder in akuter Not ist, alarmieren die Mitarbeiter des Busses die Feuerwehr. Die fährt dann mit dem Patienten eine Rettungsstelle an.

Guido du Maire schläft nie im Freien. Die Tage verbringt er meist in einer Wartehalle am S-Bahnhof Gesundbrunnen, abends taucht er regelmäßig in der Traglufthalle auf.

In einem früheren Leben, als er noch eine Wohnung hatte, arbeitete er als Gerüstbauer. Irgendwann stand er am Bett seiner todkranken Mutter, die nur noch von Geräten am Leben erhalten wurde, und sagte den Ärzten, sie könnten die Geräte abstellen. Tagelang habe er diesen Schritt hinausgezögert, erzählt er. Anschließend quälte ihn der Gedanke, er habe seine Mutter getötet. Guido du Maire stürzte ins Nichts.

Dabei ist das soziale Netz auch für Rollstuhlfahrer gespannt. Die Bezirke, sagt Kai-Gerrit Venske, Fachreferent Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe, müssen Menschen, die nicht freiwillig obdachlos sind, unterbringen, natürlich auch Rollstuhlfahrer. „Da diese Pflicht zur Unterbringung der Gefahrenabwehr dient, gilt dies für alle Menschen, also auch für die ohne sozialrechtliche Ansprüche.“ Es genüge der erklärte Wille des Betroffenen gegenüber dem Amt. „Eine Bescheinigung eines Sozialarbeiters oder Arztes ist bei niemandem erforderlich.“ Menschen mit Pflegebedarf erhalten auch ambulante Hilfe.

Die rauen Gesetze der Straße orientieren sich nicht an Zuständigkeiten

Auch die Senatsverwaltung engagiert sich. Die Linken-Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat die Zahl der Notübernachtungsplätze bereits merklich aufgestockt. Laut Sozialverwaltung wurde für die „Haushaltsjahre 2020 und 2021 erstmalig eine finanzielle Vorsorge getroffen, um die Unterbringung von rollstuhlfahrenden Obdachlosen zu unterstützen“. Das Angebot zur Betreuung von Menschen mit einem hohen pflegerischen und medizinischen Bedarf sei bereits verbessert worden, „aber noch nicht gut genug“.

Es gibt in Berlin zudem eine Clearingstelle für all jene, die nicht krankenversichert sind. Hier können Betroffene medizinische Hilfe erhalten. Die Kosten übernimmt die Senats-Gesundheitsverwaltung. Aber eine wirklich wirksame Hilfe, sagt die Sprecherin der Sozial-Senatsverwaltung, könne es nur geben, wenn Bezirke und Senatsverwaltungen zusammenarbeiten.

Die Kältehilfe ist eigentlich eine reine Notmaßnahme, sie ist gar nicht zuständig für die grundsätzliche Betreuung von Rollstuhlfahrern. Deshalb sind für Hilfsmittel auch keine Gelder vorgesehen. Und natürlich wissen die wenigsten Mitarbeiter in den Notübernachtungen, wie man einen Rollstuhlfahrer richtig anfasst, ihn hochhebt, fachgerecht transportiert. „Wer ohne Pflegekenntnisse solche Leute betreut, der stößt sofort an seine absoluten Grenzen“, sagt Kai-Gerrit Venske von der Caritas.

In der Traglufthalle greift Guido du Maire in eine Tasche, nestelt seinen deutschen Personalausweis heraus und legt ihn auf den Tisch. „Ich beziehe Hartz IV“, sagt er, „ich bin auch krankenversichert“. Ihm stünde eine andere Unterkunft als eine Notübernachtung zu.

Doch die rauen Gesetze der Straße orientieren sich nicht an formalen Zuständigkeiten. Viele Rollstuhlfahrer gehen schlichtweg nicht aufs Sozialamt, obwohl sie Ansprüche hätten. „Es gibt Menschen, die sind süchtig und gehen deshalb nicht“, sagt Swetlana Krasovski-Nikiforovs, die leitende Krankenschwester der Stadtmission-Ambulanz. „Andere schaffen es mit ihren altersschwachen Rollstühlen einfach nicht bis zum Amt.“

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