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Obst und Gemüse ist für viele Türken unbezahlbar geworden.

© imago images/ZUMA Wire

Wirtschaftskrise trifft auf staatliche Repression: Türkei weist Syrer aus, weil sie Bananen aßen

Der Vorwurf: „Provokanter“ Verzehr von Obst, das für viele Türken zu teuer geworden ist. Ein Beispiel für den wirtschaftlichen Kollaps des Landes.

„Wir sind hier die Hausherren, ihr seid nur Gäste – und trotzdem geht es euch besser als uns“, schreit ein aufgebrachter Türke eine junge Frau aus Syrien an. „Ich kann mir nicht mal eine Banane leisten, aber ihr kauft sie kiloweise“, schimpft der Mann in einer Video-Straßenumfrage des Internetsenders Kanal Dünya, die in den sozialen Medien in der Türkei die Runde machte.

Als Antwort ließen sich einige Syrer auf der Videoplattform Tiktok beim Bananen-Essen filmen. Jetzt weist das türkische Innenministerium sieben Syrer aus, weil sie „provokativ“ Bananen gegessen haben sollen.

Die Episode macht Furore, weil sie die größten Sorgen der Türken auf den Punkt bringt: die Wirtschaftskrise, die Flüchtlinge und die staatliche Repression. Während der Westen über die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angezettelte Botschafter-Krise diskutiert, haben Millionen von Türken ganz andere Sorgen.

Ihnen steht das Wasser bis zum Hals – und sie fragen sich allmählich, ob das an Erdogan und seinem Präsidialsystem liegt.

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Millionen Türken müssen mit 250 Euro im Monat auskommen

Arbeitslosigkeit, Schulden und Währungsverfall treiben immer mehr Türken in die Armut. Millionen müssen mit dem Mindestlohn von netto 2826 Lira auskommen – das waren zu Jahresbeginn 311 Euro, heute sind es nur noch 252 Euro. Nach Berechnungen der Weltbank rutschten allein im Vorjahr rund 1,7 Millionen Menschen in der Türkei unter die Armutsgrenze.

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Die Arbeitslosigkeit liegt selbst nach offiziellen Angaben bei zwölf Prozent, die Inflation bei 20 Prozent. Laut einer Umfrage kritisieren vier von fünf Wählern die Wirtschaftspolitik als schlecht.

Zugleich steigen die Ressentiments gegen die vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land: 80 Prozent der Türken lehnen ihre Anwesenheit ab. Protest oder Kritik bieten kein Ventil, weil sie als Terrorpropaganda oder Präsidentenbeleidigung verfolgt werden.

Seit Erdogans Amtsantritt als Staatspräsident vor sieben Jahren hat die Justiz mehr als 160 000 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet, allein im vergangenen Jahr waren es mehr als 31 000 – das sind 85 neue Verfahren pro Tag.
Immer mehr Wähler wenden sich nun von Erdogans Regierungspartei AKP ab, beobachtet der Meinungsforscher Murat Gezici.

Die Wähler stellen die Systemfrage

Bei der Sonntagsfrage gebe es derzeit einen starken Anstieg für die Oppositionsparteien. Dabei hat sich die Opposition noch nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentenwahl verständigt, die im übernächsten Jahr fällig ist. Darauf komme es den Wählern nicht an, sagt Gezici, denn sie stellen die Systemfrage: Das Präsidialsystem, das Erdogan bei der Einführung vor vier Jahren als Allheilmittel angepriesen hatte, habe sich in ihren Augen nicht bewährt.

Die Opposition lege in den Umfragen zu, weil sie für die Abschaffung des Präsidialsystems und die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie plädiere.

Laut einer Umfrage des Instituts Area favorisiert mehr als jeder zweite Wähler ein parlamentarisches System. Die Unterstützung für das Präsidialsystem liegt demnach bei 33 Prozent.

Erdogans Regierung hat erkannt, wie gefährlich der Unmut in der Bevölkerung ist. Sie will die unteren Einkommensschichten entlasten und prüft Möglichkeiten wie eine Anhebung des Mindestlohns oder Steuersenkungen.

Die Bürger sehen, dass Erdogan Probleme nicht lösen kann

Manche Kritiker werfen Erdogan auch vor, mit außenpolitischen Krisen wie dem Streit um die Botschafter oder einer neuen Militärintervention in Syrien von den wirtschaftlichen Problemen ablenken zu wollen.
Überzeugend seien Erdogans Antworten nicht, meint der Journalist Rusen Cakir vom Nachrichtenportal Medyascope.

Sein Streit mit den Botschaftern habe ihm jedenfalls nicht viel genützt: „Keiner seiner enttäuschten Wähler wird sagen: Erdogan bekämpft den Westen, dann gebe ich ihm noch einmal eine Chance – im Gegenteil: Das Land hat so viele Probleme, von der Wirtschaft bis zur Außenpolitik, und die Bürger sehen, dass Erdogan sie nicht lösen kann.“

Am Präsidialsystem will die Regierung bisher nicht rütteln lassen. Allerdings fordern inzwischen selbst prominente Anhänger des Präsidenten, es müsse sich etwas ändern.

Vom Ende der Ein-Mann-Herrschaft

Der Ex-Abgeordnete Mehmet Metiner plädiert dafür, die Rechte des Präsidenten zugunsten des Parlaments einzuschränken. Die einflussreiche regierungsnahe Journalistin Nagehan Alci argumentiert ähnlich. Die Opposition ist sicher, dass Erdogans Ein-Mann-Herrschaft auf ihr Ende zusteuert.

Meral Aksener, Vorsitzende der konservativen IYI-Partei, sagte kürzlich, sie wolle in zwei Jahren nicht für das Präsidentenamt kandidieren, sondern für den Posten der Ministerpräsidentin: Erdogan hatte das Amt des Regierungschefs abgeschafft, aber Aksener zählt darauf, dass es bald wieder eingeführt wird.

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