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Eine Skipiste in der Nähe von Zermatt in the Swiss Alps on November 28, 2020.

© Fabrice Coffrini/AFP

Wird die Schweiz ein zweites Schweden?: Im Alpenland grassiert hochansteckende Sorglosigkeit

In kurzer Zeit ist die Schweiz zum Corona-Hotspot geworden. Am Geld scheiterte die Vorsorge nicht – es gab zu viele legale Partys, und ein Jodelfest.

Aus dem Pralinengeschäft in Bern weht süßer Duft in die Bahnhofspassage. Vor dem Laden wartet ein halbes Dutzend Männer und Frauen, zwei der Schokoladenliebhaber tragen keine Maske. „Die Leute lassen sich durch Corona nicht die Lust auf unsere Leckereien verderben“, sagt die Verkäuferin und packt die schmackhafte Ware ab.

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Auch vor einer Fast-Food-Kette herrscht Andrang. Daneben, in einem italienischen Café, flitzen Kellnerinnen zwischen gut besetzten Tischen hin und her. An diesem kalten Tag im November 2020 tummeln sich die Menschen auch oberhalb der Passage: Die Berner Altstadt ist voll, rund um den Käfigturm, in den pittoresken Gassen und in etlichen Geschäften und Bistros kommen sich Passanten und Gäste nahe. Gefährlich nahe.

Eigentlich müssten alle diese Menschen in Bern nach den Anti-Corona-Bestimmungen der Schweizer Regierung einen Mund- und Nasenschutz überziehen. Doch viele Münder und Nasen sind frei. Selbst in der Schweizer Bundesstadt hält sich nicht jeder an die landesweit geltende Maskenpflicht für Läden, Gastronomiebetriebe und „belebte Fußgängerbereiche“.

„Das Tempo ist fast Weltspitze“

Nötig wäre das schon. Denn die Eidgenossenschaft hat sich binnen weniger Wochen zu einem internationalen Brennpunkt der Corona-Epidemie entwickelt. „Es ist fünf vor Zwölf“, rief Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bereits Mitte Oktober ihren Landsleuten zu. Kurz darauf schrieb die Redaktion von Tamedia über die Fallzahlen in der Schweiz: „Das Tempo ist fast Weltspitze.“

Ende Oktober bis Anfang November meldete das Bundesamt für Gesundheit an mehreren Tagen jeweils rund 10.000 bestätigte Covid-19-Neuinfektionen. Zwar ist die Zahl der erfassten Neuinfektionen seitdem zurückgegangen, zuletzt auf 4.786. Doch für ein Land mit 8,6 Millionen Einwohnern markiert das noch immer einen alarmierenden Wert. Zum Vergleich: In Deutschland leben fast zehnmal mehr Menschen als in Helvetien. Zugleich kommt die Bundesrepublik auf Fallzahlen, die, sehr grob gerechnet, nur drei- bis viermal so hoch ausfallen als diejenigen in der Schweiz.

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Auch im Corona-Vergleich mit weiteren EU-Ländern schneidet die Schweiz schlecht ab. Seit Beginn des Corona-Ausbruchs in der Eidgenossenschaft im Februar steckten sich nachweislich 335.660 Menschen an, davon mehr als ein Drittel allein seit dem 4. November.

Ebenso wanken andere Abschnitte der helvetischen Corona-Front: Test-Kapazitäten werden knapp, die Intensivstationen sind voll, die Zahl der erfassten Covid-19-Todesfälle stieg auf insgesamt 4667 – abermals ein hoher Wert im internationalen Vergleich. Gesundheitsminister Alain Berset Durchhalteparolen gibt aus: „Wir brauchen Ausdauer, müssen weitere Monate weitermachen, diesen Winter müssen wir mit eigenen Kräften bewältigen.“

Es ist derselbe Berset der vor gut einem halben Jahr, als die erste Covid-19-Welle abebbte, den Schweizern versicherte: „Wir können Corona.“ Im Juni registrierte die Regierung, der Bundesrat, nur noch vereinzelte Ansteckungen. Das Kabinett hob die scharfen Restriktionen des ersten Lockdowns schrittweise auf. Und die Schweizer fassten wieder Mut, die Wirtschaft wieder Tritt. Die Schweiz fuhr – ähnlich wie Schweden – einen sehr liberalen Corona-Kurs.

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Doch nun rollt die zweite Corona-Welle über das Alpenland. Und die Menschen fragen sich: Wer trägt die Verantwortung für die eskalierende Krise? Wie kann die reiche, durchorganisierte Schweiz mit einem international herausragenden Gesundheitssystem so scheitern?

Die Antworten reichen vom Politikversagen über den berüchtigten Kantönligeist bis zu den sinkenden Temperaturen. Und: Zwischen Bodensee und Genfersee grassierte lange eine nahezu ansteckende Sorglosigkeit. Die vielen Partys und Feste, draußen und drinnen, sowie feuchtfröhliche Nächte in Clubs, Bars und Discos beschleunigten die Corona-Ausbreitung.

Eine Schneekanone bei Verbier in der Schweiz
Eine Schneekanone bei Verbier in der Schweiz

© Denis Balibouse/REUTERS

Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkulierte das Virus, viele Besucher infizierten sich. Bei einer Hochzeit mit 200 Gästen in der Appenzeller Gemeinde Schwellbrunn feierten Gäste, die Covid-19-Symptome aufwiesen. „Das macht mich traurig, entsetzt und wütend“, konnte Schwellbrunns Gemeindepräsident Ueli Frischknecht nur noch hervorbringen. Auch die behutsamen Schwestern des Klosters Cazis in Graubünden waren vor dem Virus nicht gefeit. Anfang November meldete die Priorin von Cazis, dass mehr als ein Dutzend der Dominikanerinnen erkrankt sind.

Als weiterer natürlicher Faktor kommen sinkende Temperaturen ins Spiel: Der Epidemiologe Matthias Egger bestätigte dem Tagesspiegel: „Mit dem kalten Wetter, bei dem sich die Leute wieder vor allem in Innenräumen aufhalten, haben wir eine exponentielle Ausbreitung ähnlich wie Anfang März.“

Vor allem aber zeigen Helvetiens Politiker nicht immer den nötigen Biss, oft zögern sie. Viele EU-Staaten reagierten viel drastischer als die Schweiz. Der Epidemiologe Christian Althaus beklagte „das politische Totalversagen der Schweiz“. Keine Verantwortlichkeiten seien auf irgendeiner Stufe zu sehen, schrieb Althaus, der in der nationalen Schweizer „COVID-19 Science Task Force“ sitzt.

Zumal das kleinteilige föderale System der Schweiz behindert ein erfolgreiches Krisenmanagement: Im Juni gab die Regierung in Bern, der Bundesrat, die „Hauptverantwortung“ für den Kampf gegen Covid-19 zurück an die 26 Kantone. Seither ordnet der Bundesrat nur noch national geltende Mindestvorgaben an.

Jeder Kanton ist befugt darüber hinauszugehen. Jedoch kann von einer abgestimmten Strategie der stolzen Gliedstaaten nicht die Rede sein. So waren im November im Kanton Genf die Friseur-Salons geschlossen. Im benachbarten Kanton Waadt durften die Figaros weiter ihre Kunden bedienen. Die Folge: Die Bewohner von Genf fuhren für einen Haarschnitt in die Waadt. Und Genfer Coiffeure halfen in der Waadt aus.

Ebenso läuft auf der Schweizer Bundesebene einiges schief:

  • Beispiel Maskenpflicht: Während des gesamten ersten Lockdowns wollte der Bundesrat von einem obligatorischen Tragen des Mund- und Nasenschutzes nichts wissen. Erst Anfang Juli führte die Regierung die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr ein. Es dauerte mehr als zwei Monate bis das Kabinett die Maskenverordnung verschärfte und sie auch für Läden und Fußgängerzonen anordnete.
  • Beispiel Großveranstaltungen: Der Bundesrat verbot Ende Februar 2020 Events mit mehr als 1000 Personen. Im August, die Infektionen gingen langsam wieder nach oben, warnte der Chef der Covid-19-Task-Force, Martin Ackermann: „Bewilligungen von Großveranstaltungen liegen in dieser heiklen Situation nicht drin.“
  • Beispiel Massenveranstaltungen: Anfang September, als Befürchtungen über eine zweite Welle die Schweiz erfassten, entschied die Regierung: „Das Verbot für Großveranstaltungen mit über 1.000 Personen wird unter strengen Auflagen per 1. Oktober 2020 aufgehoben.“ Fußball- und Eishockeyvereine mit Profiteams hatten dafür getrommelt. Wie stark die 1000-Plus-Treffen die Corona-Krise eskalieren ließen, ist unklar.

Am 28. Oktober ruderte der Bundesrat wieder zurück. Er untersagte in der gesamten Schweiz die Großevents mit mehr als 1.000 Menschen. Jetzt gilt eine Obergrenze von 50 Personen für Veranstaltungen. Gesundheitsminister Berset nennt diesen Zickzackkurs einen „Mittelweg“. Und er gibt freimütig zu: „Wir haben keine Garantie, dass dieser Weg funktioniert.“

Wie schlecht vieles in der Schweizer Corona-Abwehr funktioniert, zeigt sich zumal in den Krankenhäusern. Mitte November wartete die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) mit einer unangenehmen Mitteilung auf: „Die 876 von der SGI zertifizierten und anerkannten Intensivbetten, die in der Schweiz normalerweise zur Behandlung Erwachsener zur Verfügung stehen, sind aktuell praktisch vollständig belegt.“  Die SGI macht dafür den „erhöhten Zustrom“ an kritisch kranken Covid-19-Patienten verantwortlich.

In dieser Lage sorgte der Vorschlag eines bekannten Zürcher Beraters für das Gesundheitswesen, Willy Oggier, für Aufsehen. Oggier stellte in einem Interview eine Forderung auf, die er gegenüber dem Tagesspiegel wiederholte: Corona-Skeptiker, die es auch zuhauf in der Schweiz gibt, sollen „ihr Recht auf ein Akutbett oder einen Intensivplatz verwirken, falls es zu Engpässen kommt“. Konkret soll das für einen Menschen gelten, der „angezeigt wird, weil er die Abstand- und Hygieneregeln mutwillig missachtet“. 

Jan Dirk Herbermann

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