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Eine Intensivpflegerin versorgt auf der Intensivstation am Klinikum Braunschweig einen an Covid-19 erkrankten Patienten.

© Ole Spata/dpa

„Wir sehen ja wirklich das, was los ist“: Epidemiologen fordern Neuaufnahmen auf Intensivstationen als neuen Inzidenzwert

Die Inzidenz ist zunehmend von der eigentlichen gesundheitlichen Lage entkoppelt. Der Fokus auf schwer Erkrankte werde deshalb wichtiger, sagen Wissenschaftler.

Zur Bewertung der Pandemie-Lage bringen Experten als Orientierungswert die Zahl der Intensivstation-Neuaufnahmen binnen sieben Tagen ins Spiel. Die Inzidenz, also die Zahl der Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche, korreliere bereits jetzt nicht gut mit der Lage, bekräftigte der Epidemiologe Gérard Krause am Dienstag in einer Video-Schalte des Science Media Center (SMC). Der Wert könne Risiken sowohl über- als auch unterschätzen.

Gebraucht würden mehrere Indikatoren, um die Lage sachgerecht abzubilden und gezielte Maßnahmen zu treffen, so der Experte vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Das Robert Koch-Institut (RKI) liefere zwar eine Vielzahl an Daten, die aber leider nicht berücksichtig würden bei der Entscheidungsfindung, so Krause. „Wenn man gezwungen ist, sich auf nur einen Messwert zu beschränken - und das scheint so zu sein -, dann wäre die Zahl der Neuaufnahmen auf Intensivstationen das, was der Situation am ehesten gerecht wird.“

Einen Fokus auf schwer Erkrankte zu setzen, werde künftig noch wichtiger, da sich die Sieben-Tage-Inzidenz zunehmend von der eigentlichen gesundheitlichen Lage entkoppele, sagte Krause. Grund seien zwei an sich erwünschte Effekte: zunehmende Tests, etwa an Schulen, und Impfungen der Risikogruppen, die hoffentlich die gesundheitliche Belastung sinken ließen. Die Zahl der Ansteckungen werde allerdings nicht in demselben Maße abnehmen. Damit sei die Sieben-Tage-Inzidenz „kein guter Orientierungspunkt mehr“.

Weil zwischen Ansteckung und Intensivstation einige Tage vergehen, gilt die Inzidenz als Indikator, der frühzeitig anzeigt, wie sich die Lage entwickelt. Aus Sicht von Christian Karagiannidis aus der wissenschaftlichen Leitung des Divi-Intensivregisters wären zeitlich Einbußen aber zu verschmerzen: Der Vorteil der Intensivbetten-Zahlen sei die größere Robustheit. Man sei nicht abhängig von täglichen Schwankungen und Verzögerungen im Meldewesen oder von Testfrequenzen.

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„Wir sehen ja wirklich das, was los ist.“ Er sprach sich für eine gemeinsame Betrachtung dieser Zahl in Verbindung mit Prognosemodellen zur Belegung der Intensivbetten aus. Man dürfe nie auf nur einen Wert blicken.

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Im Divi-Intensivregister werden Daten zur Betten-Belegung mit Covid-19-Patienten auf Intensivstationen veröffentlicht. Zu Neuaufnahmen inklusive Verlegungen wird ein Bundes-Wert ausgewiesen. Regionale Daten lägen noch nicht vor, daher habe man ein Schätzmodell mit Grenzwerten je nach Bundesland entwickelt, sagte Helmut Küchenhoff, Leiter des Statistischen Beratungslabors der LMU München. Laut einem Bericht von Autoren um Küchenhoff und Krause könnte mit niedrigen Grenzwerten ein „etwaiger Zeitverzug“ kompensiert werden.

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Auch die Neuaufnahmen sind aber mit Einschränkungen verbunden, wie die Wissenschaftler selbst schreiben: So sei etwa die Dauer, in der ein Patient auf der Intensivstation liegt, nicht über längere Zeit konstant, da sie auch vom Alter und veränderten Viruseigenschaften abhänge. Auch müsse bei der Zählung unterschieden werden zwischen Patienten, die ursächlich wegen Covid-19 aufgenommen werden, und solchen mit anderen Krankheiten, aber positivem Sars-CoV-2-Nachweis. Wichtig fänden die Forscher zudem Angaben auch zum Herkunftsort der Patienten - statt zum Standort der behandelnden Intensivstation.

Lage auf Intensivstationen laut Medizinern „angespannt, aber beherrschbar“

Führende Mediziner an Kliniken warnen derweil vor Alarmismus. "Wir sind und waren zu keiner Zeit am Rande unserer Kapazitäten", sagt Thomas Hermann Voshaar, Chefarzt der Lungenklinik Bethanien Moers, der "Bild". Der Alarmismus der Intensivmediziner der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sei unverantwortlich und unverhältnismäßig und von den tatsächlichen Zahlen nicht gestützt.

"Nicht mal ein Viertel der 22.000 Intensivbetten in Deutschland sind mit Covid-19-Patienten belegt." Auch der Leiter der Klinik für Intensivmedizin und Notfallmedizin des Klinikums Bremen Mitte, Rolf Dembinski, befürchtet keinen Zusammenbruch des Gesundheitssystems. "Ich befürchte keinen Kollaps, aber bis zum Sommer eine schwierige Situation", sagt er der Zeitung. Die Lage sei "angespannt, aber noch beherrschbar".

Am Mittwoch stimmt der Bundestag über die sogenannte Bundes-Notbremse ab, am Donnerstag der Bundesrat. Vorgesehen ist - nach derzeitigem Informationsstand - eine Koppelung von Ent- und Verschärfungen der Maßnahmen je nach Entwicklung der Sieben-Tage-Inzidenz. (dpa, Reuters)

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