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Gefährlich und gefährdet. In Berlin lebt ein Wildschwein nur ein oder zwei Jahre, ehe es umgefahren oder erschossen wird.

© Gregor Fischer/dpa

Wildtiere in der Großstadt: Der Berliner muss mit den Wildschweinen klar kommen

Das Wildschwein entert Berlin – und der Berliner fühlt sich bedroht. Die Frage ist aber, wer hier wen in die Enge treibt.

Plötzlich raschelt es im Gebüsch. Etwas Schweres drängt sich zwischen den Zweigen hindurch. Etwas Großes bahnt sich seinen Weg aus dem dunklen Berliner Wald, nahe am Tegeler See. Erst ist eine haarige Schnauze zu sehen, dann ein Kopf, dann das ganze Tier. Massiv, gedrungen und mit vielen struppigen Borsten. Es ist ein Wildschwein, eines der letzten größeren Wildtiere Deutschlands. Vom Menschen gefürchtet, vom Menschen verflucht und vom Menschen gegessen. Da ist es. Endlich, nur zehn Meter entfernt, nach stundenlangem Suchen. Eines von 3000 bis 5000 Exemplaren in der Stadt.

„Das Wildschwein entert die Stadt“, schreibt eine Berliner Zeitung. Von einer „Invasion“ ist im Fernsehen die Rede. Oder entert die Stadt die Wildnis? Treibt der Mensch, der sich mehr und mehr ausbreitet, das Schwein in die Enge? Wer wütet in wessen Garten? Wer stört wen?

Aus eins mach sieben mach 49, theoretisch

Wie viele es heute genau in der Hauptstadt gibt, wissen die Berliner Wildschweinverantwortlichen nicht. Sie wissen nur, dass die Schweine sich vermehren wie verrückt, egal wie viele von ihnen sie im Jahr schießen lassen. Weil es reichlich Futter gibt, kann eine Bache zweimal im Jahr Frischlinge bekommen, die wiederum nach acht Monaten geschlechtsreif sind. Aus eins mach sieben mach 49, theoretisch.

Und der Berliner? Der fühlt sich bedroht. Wildschweine sind „unberechenbar und gefährlich“, wird im Radio gewarnt. Im jüngsten Berliner „Tatort“ muss ein Wildschwein sogar als Mörder einer Joggerin herhalten.

Wäre der gemeine Berliner dem gemeinen Wildschwein freundlicher gesinnt, wenn er wüsste, was für ein Tier das ist? Clever und liebevoll, urig und rauflustig.

In der freien Wildbahn können Wildschweine bis zu 20 Jahre alt werden. In Berlin aber werden die Schweine nur ein, allerhöchstens zwei Jahre alt, ehe sie umgefahren werden oder eine Kugel sie trifft. Wer also muss hier vor wem Angst haben?

Zwei Jahre hat Milena Stillfried auf der Lauer gelegen. Hat Lebendfallen gebaut, große Drahtkästen, die von Hand ausgelöst werden müssen. Dann wartete sie, stundenlang, nächtelang, bis das Schwein in die Falle tappte. 13 Tieren verpasste sie GPS-Halsbänder, die alle 30 Minuten ihren Standort senden. So fand sie heraus, wo die Schweine schlafen, essen und baden gehen. Von 600 toten Schweinen hat sie Proben genommen, 320 Wildschweinmägen begutachtet und 387 genetische Proben analysiert.

Manche sind mutig, andere vorsichtig

Man kann also mit gutem Recht behaupten, dass die Wildtierökologin Milena Stillfried, 34 Jahre alt, das Berliner Wildschwein bestens kennt. „Was mich wirklich verblüfft hat: Die Wildschweine haben unterschiedliche Charaktere, manche sind mutig, andere vorsichtig, andere haben mich regelrecht reingelegt und sind erst wieder aufgetaucht, nachdem ich meine Fallen abgebaut hatte“, sagt sie.

Mithilfe der Sender hat sie ein Bewegungsprofil erstellt und dabei herausgefunden, dass sich die Wildschweine perfekt an die Stadt und ihre Menschen angepasst haben. „Sie wissen, wann die meisten Hunde spazieren gehen, wann die Jäger unterwegs sind, und meiden dann diese Räume. Insgesamt haben sie gelernt, dass vom Berliner keine Gefahr ausgeht.“ Genetisch betrachtet gibt es vier Gruppen: die Grunewaldschweine, die Schweine aus dem Tegeler Forst und die aus Köpenick. Die vierte ist das wirklich in der Stadt lebende Schwein, das genetisch eher mit dem Brandenburger Landschwein verwandt ist. Wo man das Stadtschwein antreffen kann? „Überall: in Parkanlagen, Laubenkolonien, auf Friedhöfen, den Grundstücken von Kindergärten und Schulen, gerne da, wo Wasser ist. Das Schwein findet seinen Platz.“ Es ist der Berliner, der nicht darauf vorbereitet ist.

Es riecht zwei Kilometer entfernte Eicheln

Dieses hier, das gerade aus dem Wald kommt, schnüffelt erst mal. Sehen kann es nur schlecht. Die Augen sind tief in den Schädel eingelassen – gut geschützt für Fluchten durch das Unterholz. Dafür kann das Schwein umso besser riechen, 2000 Meter weit entfernte Eicheln auf dem Boden oder nasse Vorgartenerde mit Regenwürmern. Bis zu 150 Kilo schwer, höher als einen und länger als anderthalb Meter kann es werden.

Das Schwein, das hier aus dem Wald kommt, ist eine Bache. Ihr folgen ihre fünf Frischlinge und dann noch eine Bache.

Bachen und Frischlinge tun sich zusammen, bilden Rotten, achten gegenseitig auf ihren Nachwuchs und können sich mit einer Vielzahl von Geräuschen, Grunzen, Quieken, Schnaufen, vor Gefahren warnen. Und sie machen alles zusammen: Wenn ein Wildschwein sich für die Fellpflege an einem Baum schuppert, tun es die anderen auch. Wenn ein Wildschwein sich eine Suhlstelle im Schlamm zurechtplättet, folgen die anderen. Der Schlamm hilft gegen Fliegen, Mücken und Zecken.

Nur wenn eine Bache kurz vor dem Gebären steht, zieht sie sich zurück, sucht sich einen ruhigen, versteckten Ort und baut sich mit seinem Rüssel und aus Stöcken und Gräsern einen Kessel, also ein Nest. Dort verbringen Mutter und Nachwuchs die ersten zwei Wochen. Hier wird gesäugt und gewärmt. Hier lernen sie sich riechen, um sich bei Fluchten durch den Wald schnell wiederfinden zu können.

"Hilfe, Wildschweine vor der Kita!"

Diese kleine Rotte trappelt Richtung Vorgärten, Grünstreifen und Spielplatzwiese davon. Auf zu den Menschen, denn bei ihnen gibt es Bioabfälle und Kompost. Die Bachen merken sich die guten Fressstellen und geben dieses Wissen an ihre Frischlinge weiter. Auch wie man Mülltonnen mit dem Rüssel öffnet und Zäune mit dem Kopf anhebt oder dass im Stadtgebiet im Gegensatz zum Wald nur selten geschossen wird, lernen die Kleinen.

„Bei mir wühlt ein Wildschwein im Garten, was soll ich tun?“ – „Da stehen Wildschweine vor meiner Einfahrt.“ – „Ich habe Wildschweine auf meinem Friedhof.“ – „Hilfe, Wildschweine vor der Kita.“ – „Ich konnte mich gerade noch hinter einen Zaun retten.“ Diese Anrufe erreichen Katrin Koch täglich. Sie ist die Stimme des Berliner Wildtiertelefons und findet Wildschweine ziemlich toll.

„Die liegen in ihrem Versteck, beobachten und haben überhaupt keine Angst. Opportunisten, das sind sie, aber ich liebe sie.“ Den Anrufern hört sie erst einmal zu, beruhigt sie, fängt den Ärger über den Totalschaden im Vorgarten auf und dann gibt sie Tipps. Wenn man sich dabei nicht in Gefahr bringt, kann man versuchen, sie mit Rufen zu verscheuchen. Oder wartet einfach, bis sie wieder ihrer Wege gehen. Auf gar keinen Fall sollte man die Schweine in die Enge treiben, dann greifen sie an. Wollen sie partout im Garten bleiben, sollte man den Stadtjäger rufen.

Ansonsten gilt: „Abstand halten, nicht hastig wegrennen, nicht drauf zugehen, sich langsam zurückziehen und dabei darauf achten, dass das Tier Fluchtwege hat. Vor Wildschweinen sollte man Respekt haben, aber keine Panik“, sagt Katrin Koch. Und noch etwas: Auf gar keinen Fall sollten Wildschweine gefüttert werden. Dann kommen sie wieder, bedrängen einen, und das kann sehr gefährlich werden.

Messerscharfe Eckzähne, 30 Zentimeter lang

Wildschweine sind schnell, wendig und sehr wehrhaft. Sie können einen wie ein Rammbock umrennen. Oder einem die Beine mit ihren zwei 20 bis 30 Zentimeter langen und messerscharfen Eckzähnen aufreißen. Auch wenn dies, wie der Berliner Wildtierbeauftragte Derk Ehlert beteuert, oft nur Missverständnisse sind: „Ich gehe jedem gemeldeten Zwischenfall nach. Fast jedes Mal sind es Schweine auf der Flucht, die sich bedroht fühlen, oder eine Bache in Sorge um ihre Frischlinge.“

2014 starb in Berlin ein Rentner in seinem Garten nach einer Wildschweinattacke an einem Herzinfarkt. 2015 verletzte eine in die Enge getriebene Bache zwei Männer in ihrem Garten schwer an den Beinen. Und 2018 erobern Abend für Abend Dutzende Wildschweine in Kleinmachnow bei Berlin den Dorfplatz. Sie sollen aggressiv auf Hunde losgehen, klagen die Anwohner. Zäune für alle Grundstücke, präventive Abschüsse, darüber diskutieren sie nun.

Doch das mit dem Schießen ist nicht einfach. Für den Wald sind Förster und Jäger zuständig, für die Stadt ausschließlich die Stadtjäger. Von denen gibt es circa 30, im Ehrenamt. Sie sind gefragt, manche von ihnen jeden Tag im Einsatz, doch mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ist schwer.

„Wir wollen einfach nur in Ruhe unsere Arbeit machen“, sagt dann doch einer. Nennen wir ihn Konrad Meister, da er weder seinen richtigen Namen noch ein Foto noch seinen Beruf in der Zeitung sehen möchte. Öffentlichkeit führe immer nur zu Missverständnissen und Anfeindungen. „Die, die uns rufen, sind dankbar. Doch die, die uns dann bei unserer Arbeit sehen, sind entsetzt und verteufeln uns. Das ist doch schizophren“, sagt Meister.

Manchmal müssen sie einen Park leer schießen

Gerade steht er in seinem Ladengeschäft, zu Fuß seine beiden Hunde, in einem Plastikbeutel ein abgetrennter Hirschkopf, den er herausnimmt und zu enthäuten beginnt. Eine blutige Angelegenheit. Am Ende schauen einen nur noch die toten, aber unversehrten Augen an. Konrad Meister ist auch normaler Jäger, seit Jahrzehnten schon, irgendwann kam die Stadtjagd dazu. Seine Aufgabe: den Wildtierbestand in der Stadt unter Kontrolle zu halten. „Wir können nicht Evangelien predigen, wir müssen uns beim Wildschwein Respekt verschaffen“, sagt Meister. Und wie machen sie das? „Wenn wir eines schießen, merken sich das die anderen und meiden diesen Platz.“ So einfach ist das. Manchmal müssen sie auch einen Park leer schießen. Dann sperrt die Polizei ab. Sie stellen sich zu zweit auf. Die Hunde kreisen, scheuchen die Tiere auf, die beiden knallen, bis zwölf Schweine am Boden liegen, im Brixpark war das, ein Wildschwein-Hotspot vor zwei Jahren.

Auch wenn die Afrikanische Schweinepest Deutschland erreichen sollte, und das ist zu befürchten, werden Meister und seine Kollegen eine Vielzahl von Tieren töten müssen. Schuld am Elend der Schweine ist dabei allen voran der Mensch: Schon ein achtlos weggeworfenes Wurstbrot kann ausreichen, dass ein Wildschwein sich mit der Seuche infiziert und diese an Dutzende andere weitergibt.

Was Konrad Meister vom Wildschwein hält? „Ein tolles Tier. Intelligent. Eines, das dich als Jäger austrickst“, sagt er. Heute Abend zieht Meister wieder los. Ein Anglerverein in Lichterfelde braucht seine Hilfe. Im Garten hat sich eine Wildschweinrotte eingerichtet. Er will versuchen, sie zu vertreiben, wenn das nicht klappt, muss er schießen.

"Da hat der Jäger etwas schlampig gearbeitet"

An einem Haken baumelnd, in der Kühlkammer hängend, mit einem großen Schnitt von Kehlkopf bis Schwanz. Auf dem Weg in den Ofen, so haben die Menschen das Wildschwein am liebsten. Oder? Herz, Magen und die anderen Innereien sind schon rausgenommen, das macht der Jäger gleich vor Ort, nur ein bisschen Lunge klebt noch an der Innenseite des Brustkastens. „Da hat der Jäger etwas schlampig gearbeitet“, sagt Frank Nerlich, Forstwirt in der Revierförsterei Spandau, während er sich den Kettenhandschuh überzieht, das Wildschwein vom Kühl- in den Zerwirkraum wuchtet, das Messer in der Hand wiegt, um dann loszulegen.

Das Fell muss runter, er reißt, zieht, schneidet, ratscht, bis es wie ein heruntergelassenes Kleid an den Wildschweinbeinen hängt. Dann nimmt er einen Bolzenschneider, setzt an, und mit lautem Knacken und Splittern trennt er Vorderläufe und Hinterläufe ab, dann den Kopf mit einer Art Schere. 500 oder 600 Wildschweine hat er in den letzten Jahren zerlegt, sagt er, eine Arbeit, die ihm Spaß macht. Zwei bis drei Stunden braucht er, um aus einem 120-Kilo-Tier lauter verkaufsfertige Fleischpakete zu machen. Beim letzten Verkaufstag kamen 100 Berliner auf den Hof und kauften die Kühlkammern leer. Das Frischlingsfilet kostet pro Kilo 31 Euro.

Doch nicht jeder will oder kann das Geld dafür aufbringen. Anfang November war ein berenteter Metzgermeister so verrückt nach Wildschweinfleisch, dass er sich nachts in ein Gebüsch hinter einem Supermarkt schlich, ein Wildschwein anlockte, es mit einem Beil erschlug und auseinandernahm. Doch aus dem Schmaus wurde nichts, die Polizei erwischte ihn und zeigte ihn an, wegen Wilderei, wegen Verstoße gegen das Tierschutzgesetz und wegen nicht eingehaltener Schlachtordnung.

Berlin haben die Wildschweine für sich erschlossen, haben gelernt, mit den Menschen und Autos und Hunden und Jägern umzugehen. Und der Berliner? Der wird lernen müssen, mit den neuen Stadtbewohnern klarzukommen. Ob er will oder nicht.

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