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Welche Form hat die Zukunft? Zu Anfang der 2020er-Jahre stehen verschiedene Vorstellungen von Zukunft im Widerstreit.

© Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa

Wie wir uns den Zeitverlauf vorstellen: 2020 kommt es zu Fortschritt und Rückschritt gleichzeitig

Die Konflikte der 2020er Jahre werden solche um die Form der Zukunft sein. Stillstand und Beschleunigung, beides ist parallel möglich. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Welche Form hat der Weg in die Zukunft? Ist er eine Linie? Und wenn ja, eine unendliche? Oder führt er im Kreis? Am Übergang in die 20er Jahre herrscht in Deutschland Uneinigkeit über die Form des Zeitverlaufs und die Form der Zukunft – und dementsprechend auch über die richtige Form der Politik.

Ein Sinn für die Zeitwahrnehmung fehlt dem Menschen - aber Vorstellungen davon haben wir

Wir riechen, schmecken, hören, sehen – aber ein eigener Sinn für die Zeitwahrnehmung fehlt dem Menschen. Wir behelfen uns mit Uhren, aber selbst, dass Zeit einheitlich „gemessen“ wird, ist eine relativ neue Angelegenheit, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Wenn wir nicht auf die Uhr schauen, nehmen wir das Verstreichen von Zeit über Ereignisse und Veränderungen wahr. Wir erwarten Ereignisse oder führen sie herbei, sie geschehen, und dann erinnern wir uns daran. Wir ordnen sie in Vergangenes, Andauerndes und Zukünftiges. Und so erzählen die meisten westlichen Menschen den Zeitverlauf auch: als lineare Abfolge. Der „Zeitstrahl“, auf dem Ereignisse eine Reihenfolge haben, ist das wahrscheinlich häufigste Bild vom Zeitverlauf und das erste, das einem in den Sinn kommt.

Die Vorstellungen davon allerdings, wie Geschichte von einem Punkt zum nächsten kommt, und wie es dann weiter in die Zukunft gehen sollte, sind tatsächlich sehr vielfältig. Man könnte ganz grob vier Vorstellungen unterscheiden: Fortschritt, Disruption, Zyklusdenken und apokalyptisches Denken. Alle diese Konzepte sind einerseits Beschreibungen, sie sind aber auch normativ, sie enthalten also eine Vorstellung davon, wie Zukunft herbeigeführt werden sollte.

Fortschritt, Disruption, Zyklus oder Apokalypse?

Das Fortschrittsdenken ist relativ neu, es existiert etwa seit dem 18. Jahrhundert. Fortschritt ist die Vorstellung, dass sich auf dem Zeitstrahl nicht nur Ereignisse aneinanderreihen, sondern dass damit Verbesserungen und Errungenschaften einhergehen, etwa technische Neuerungen, weniger Gewalt oder eine bessere Gesundheit.

Wie es zu Fortschritt kommt (und kommen sollte), darüber gehen die Vorstellungen auseinander. Es gibt einerseits Phasen der stetigen Verbesserung des Bestehenden, also „inkrementelle“ Entwicklungen. Und Phasen der Disruption (im Technischen) oder Revolution (im Politischen): Zeitperioden, in der sich die Welt in relativ kurzer Zeit sehr grundsätzlich verändert. Die letzte politische Revolution ist zwar in Deutschland nun schon 30 Jahre her, die digitale Revolution hatte aber ebenfalls eine heftige Veränderungswirkung. „Disruption“ nannte das Silicon Valley das, und auch die Disruption ist eine normative Zukunftsvorstellung: mithilfe von Technologien, die sich rasant ausbreiten, alle Lebensbereiche durchdringen – und dabei zerstören, was war. Das nächste disruptive Ding zu finden, dieser Idee hat sich die Digitalindustrie verschrieben.

Dem Fortschrittsdenken gegenüber stehen „runde Formen“ von Geschichte oder das Zyklusdenken, zum Beispiel die Vorstellung, dass sich Formen von Aufstieg und Niedergang wiederholen (was ja auch in Konjunkturzyklen tatsächlich vorkommt). Auch diese Vorstellung kennt eine normative Spielart, nämlich die Forderung, in der Zukunft die Vergangenheit wiederherzustellen – oder besser: die idealisierte Vorstellung einer bestimmten Vergangenheit. Wenn Kanoniker im Mittelalter an der Dekadenz der Kirche verzweifelten und „Reformen“ forderten, war damit gemeint: Ein Zurück zu einer reinen, unverdorbenen Ursprungsform, zu einem imaginierten Ideal. Schließlich wird der Zeitverlauf auch als endlich vorgestellt, er endet dann in Apokalypse oder Erlösung.

Die verschiedenen Vorstellungen vom Zeiterlauf bestimmen, wie Politik sein soll

Verschiedene Vorstellungen davon, wie Zeit verläuft und verlaufen sollte, haben schon immer miteinander konkurriert – es scheint aber, dass die Kakophonie der Geschichts- und Zukunftsvorstellungen zu Beginn der 2020er Jahre besonders groß ist. Zum einen stärken rechtspopulistische Bewegungen ein zyklisches Geschichtsdenken. Donald Trump will das industrielle Amerika vor dem China-Schock zurückholen und die Brexiteers das „Empire“. Viktor Orban will die Verwestlichung Ungarns zurückdrehen und Wladimir Putin forscht nach einem vergangenen Ur-Russland. Die „Politik der Unendlichkeit“ hat der Historiker Timothy Snyder diese Konjunktur „runder“ Geschichts- und Zukunftsvorstellungen 2018 in „The Road to Unfreedom“ genannt.

Snyder geißelte aber ebenso die „Politik der Unvermeidbarkeit“, ein Denken, das den Fortschritt als selbstverständlich und „unvermeidbar“ ansieht und Snyder zufolge unter linken Progressiven verbreitet ist. Tatsächlich ist der Fortschritt, an den sich westliche Gesellschaften gewöhnt hatten, nicht „unvermeidbar“: Die Chancen des sozialen Aufstiegs der Kindergeneration im Vergleich zur Elterngeneration haben abgenommen. Das Wachstumsparadigma steht unter ökologischem Rechtfertigungsdruck.

Der Klimawandel hat apokalyptische Zeitvorstellungen zurückgebracht, der Populismus zyklische

Auch die Phase technologischer Revolution ist vorbei. Internet und iPhone sind erfunden, jetzt werden kontinuierlich die Kameras verbessert, die Bildschirmqualität, die Übertragungsgeschwindigkeiten. Disruptiv ist das nicht. Mit den Folgen der digitalen Revolution allerdings ist Deutschland längst nicht fertig. Immer noch hinkt die Gesetzgebung hinterher – und die Menschen auch, in dem Gefühl, zu krass beschleunigt worden zu sein.

Die Sehnsucht nach Verlangsamung im Alltäglichen wird konterkariert von der Rückkehr apokalyptischer Zeitvorstellungen mit der ökologischen Bewegung. Der Klimawandel und die Prognose, dass schon bei einer Erderwärmung von weniger als zwei Grad Kipppunkte im Ökosystem erreicht sein könnten, setzen Deadlines. Die Welt wäre zwar nicht zu Ende – aber es würden Veränderungen herbeigeführt, die nicht rückgängig gemacht werden können.

Damit einher geht eine Ungeduld mit „inkrementeller“ Politik, wenn nicht gar eine krasse Ablehnung. Viele Menschen, gerade die Jüngeren, haben das Gefühl, nicht warten zu können, wie sich der Fortschritt langsam entwickelt. Sie verzweifeln sozusagen an der Linearität, für die die späte Regierung Merkel steht.

Die Gesellschaft zerfällt in drei Zukunftsgruppen

Zu Anfang der 2020er Jahre treten also auf seltsame Art und Weise verschiedene Geschichts- und Zukunftsvorstellungen in heftigen Streit miteinander. Stillstand und Beschleunigung passieren gleichzeitig, Fortschritt und Rückschritt ebenso. Die Gesellschaft zerfällt in drei Gruppen: diejenigen, die von der Zukunft nicht weniger als eine Revolution erwarten, um die drohende Apokalypse abzuwenden, jene, die sich an die Vorstellung vom unvermeidbaren, inkrementellen Fortschritt klammern und jene, die revolutions- und veränderungserschöpft sind und sich in der Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit einrichten.

Die Konflikte, die in den 2020er Jahren drohen, sind also gewissermaßen Konflikte um die Form der Zukunft.

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