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Die Fähigkeit zur Scham ist durchaus etwas Gutes.

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Wie wichtig sind Konventionen und Normen?: Die Fähigkeit zur Scham

Eine Gesellschaft, die sich ihrer Werte sicher ist, hat wenig Zweifel. Deutschland ist eine schamlose Gesellschaft. Hier wird selbst das Stillen in der Öffentlichkeit zum Problem. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Ursula Weidenfeld

In der Fähigkeit zur Scham zeigt sich die Empfindlichkeit des Einzelnen gegenüber den Sitten und Erwartungen seiner Umgebung. Wer sich schämen kann, vermeidet Situationen, die ihn in Konflikt mit seiner Umwelt bringen. In schamlosen Gesellschaften dagegen muss der Einzelne den Grad seiner Entblößung mit sich selbst ausmachen. Ihre Bürger sind frei. Die Grenzen dieser Freiheit müssen sie jeden Tag neu aushandeln. Die Gesellschaft liefert ihnen keinen zuverlässigen sozialen Kompass für das, was geht – und für das, was nicht geht. Deutschland ist eine solche schamlose Gesellschaft.

Eine Gesellschaft, die sich ihrer Werte sicher ist, hat wenig Zweifel. Eine solche Gesellschaft hat sich über ihre Normen und Konventionen verständigt. Diese Gesellschaften sind mit sich im Reinen. Sie sind selbstsicher und satt, sie wandeln sich nur langsam.

Die Sehnsucht nach einer solchen konservativen Gesellschaft wächst, selbst in Berlin: Die Frage, ob Mütter ihre Babys in einem Café stillen dürfen, zeigt das. Der Streit darüber, ob jemand (der Wirt) sagen darf, dass ihn das stört, zeigt es auch. Die Aufregung über EU-Kommissar Günther Oettinger ist ein weiteres Indiz. Darf ein Politiker sagen, dass er nicht mit der AfD-Politikerin Frauke Petry verheiratet sein wollte, sich andernfalls lieber erschießen möchte?

Wer als Gast einem Wirt nicht passt, könnte woanders hingehen – wie es Clubgäste seit jeher tun, wenn der Türsteher sie abweist. Eine sichere Gesellschaft würde so reagieren. Die jungen Mütter aber starten eine Petition, ein Gesetz zur Erlaubnis öffentlichen Stillens wird verlangt. Günther Oettingers Bemerkung könnte man als mäßig witzige Fußnote eines Herrenabends werten. Doch auch sie wird als Zeichen eines Verfalls der Sitten ernst genommen, Entschuldigungen und Sanktionen werden gefordert. Die Bestürzung über Hasskommentare im Internet wie auch die Empörung über Eliten, die die Sorgen der Bürger leichtfertig ignorieren, signalisieren die tektonische Verschiebung: Konventionen, Normen und Sitten sollen Halt bieten in einer Gesellschaft, die sich radikal und schnell wandelt. Das ist die gute Nachricht. Gleichzeitig aber werden sie auch zu Waffen der Unterscheidung und Abschottung. Das ist die schlechte Nachricht.

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