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Um ihre Nachfolgerin oder ihren Nachfolger geht es am 26. September, denn Angela Merkel (CDU) tritt nicht mehr an.

© picture alliance/dpa

Wie steht es um die Demokratie?: „Wir wählen ins Blaue hinein“

Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel spricht im Interview über die Demokratie. Und ihre größte Bedrohung.

Von Hans Monath

Wolfgang Merkel ist Politikwissenschaftler und Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er baut gegenwärtig ein Institut für Demokratieforschung in der ungarischen Hauptstadt Budapest auf.

Herr Professor Merkel, wie steht es um die Demokratie weltweit – ist sie auf einem guten Weg oder schwer unter Druck?

Seit dem Jahr 2008 beobachten wir weltweit einen deutlichen Rückgang der demokratischen Qualität fast aller politischen Systeme. Das wissen wir so genau, weil diese Qualität regelmäßig nach strengen Kriterien geprüft und in Indizes festgehalten wird. Dabei geht es nicht nur um den eigentlichen Wahlakt, aus dem eine Regierung hervorgeht, sondern auch um Teilhaberechte, Freiheitsrechte, Geschlechtergerechtigkeit, Korruption, Transparenz oder Gewaltenkontrolle.  

Trifft das auch für die Staaten in Amerika und in Europa zu, die als klassische Demokratien gelten?

Unbedingt. Auch in den 30 bis 35 rechtstaatlichen Demokratien haben wir einen signifikanten statistischen Rückgang demokratischer Qualität festgestellt. Das gilt auch für Deutschland. Davon gibt es nur sehr wenige Ausnahmen,  wie etwa unser Nachbarland Dänemark. Dänemark ist weltweit der Top-Performer in demokratischer Qualität. Diese Entwicklung ist für mich aber kein Grund, anderswo eine Krise der Demokratie als solcher auszurufen. „Die Demokratie“  als solche gibt es  nicht. Dänemark ist nicht Rumänien, Finnland nicht die USA, Deutschland nicht Griechenland.

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Wodurch sehen Sie die westlichen Demokratien stärker bedroht – durch die Systemkonkurrenz autoritärer Staaten oder von innen?

Die Systemkonkurrenz sehe ich bisher nicht als die größere Herausforderung. Das ist noch eine sehr neue Debatte, wenn etwa China oder Singapur gegenüber der Welt ihr eigenes System als überlegen anpreisen, weil es angeblich  besser mit den Herausforderungen der Corona-Pandemie fertig geworden sei als das der Westen. Der Systemwettbewerb könnte nur dann relevanter werden, wenn westliche Demokratien im Kampf gegen die Pandemie oder den Klimawandel eklatant zurückfallen. Das sehe ich aber auf kurze Frist nicht.

Was sind dann die Bedrohungen von innen?

Wir erheben mehr als 200 verschiedene Indikatoren, wenn wir Demokratien bewerten. Eine Verschlechterung sehen wir, wenn es um Freiheitsrechte geht, bei der Entwicklung politischer Gewalt und bei der Bedrohung der Medien und ihrer Unabhängigkeit. Insbesondere gelingt es dem Staat nicht, innergesellschaftliche Angriffe auf die Medien einzudämmen. Das hängt auch mit dem Aufstieg rechtspopulistischer oder rechtsradikaler Parteien zusammen. Insgesamt gilt: Der liberale Strang der Demokratie ist deutlich geschwächt.

Hat seine Disziplin geprägt: Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler und Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Hat seine Disziplin geprägt: Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler und Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

© David Ausserhofer/WZB

Bei welchen Kriterien schneidet Deutschland der besonders schlecht ab?

Besonders schlecht bei keinen der Kriterien. Aber auch in Deutschland werden Journalisten aus der Gesellschaft bedroht, die Gleichheit vor der faktischen Rechtsprechung kann verbessert werden, der Machtverlust des Parlaments ist unübersehbar , die Geschlechtergerechtigkeit wirtschaftlich nicht hergestellt und die Lobby-Tätigkeiten bleiben intransparent. Die Tatsache, dass sich das sozioökonomisch untere Drittel kaum aktiv in die Politik einschaltet, weist Deutschland partizipatorisch als eine relativ gut funktionierende Zwei-Drittel Demokratie aus.

Schauen wir weiter auf Deutschland: Der Wahlkampf 2021 ist weit spannender als 2017 oder 2013. Ist er deshalb auch demokratischer als vorherige?

Dieser Wahlkampf ist nicht demokratischer als frühere Wahlkämpfe, aber er ist auch nicht undemokratischer. Ein Problem sehe ich allerdings darin, dass wir so tun, als ob wir weiter in einem Zwei- oder Drei-Parteien-System leben würden. Bislang konnten sich Wählerinnen und Wähler meist recht gut ausrechnen, welche Koalition sie mir ihrer Stimme am Ende fördern würden. In diesem Jahr wählen wir erstmals eine Partei, haben damit aber wenig Ahnung, welche Koalition am Ende die Regierung übernimmt, denn die Bundestagsmandate von zwei Fraktionen werden kaum mehr ausreichen, um eine Mehrheit zu bilden. Eine präzise Auswahl der künftig Regierenden wird uns vorenthalten. Dabei macht es einen drastischen Unterschied, ob in Deutschland eine Ampel- oder eine Jamaika-Koalition regiert. Man könnte auch sagen: Wir wählen  ins Blaue hinein.

Die freie Wahl ist eine zentrale, aber nicht die einzige Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie.
Die freie Wahl ist eine zentrale, aber nicht die einzige Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie.

© Bernd Weißbrod/dpa

Manche klagen über eine Verrohung der Umgangsformen im aktuellen Wahlkampf – zu Recht?

Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Zu einem solchen Urteil kann nur kommen, wer sich nicht in der Geschichte der Wahlkämpfe der Bundesrepublik auskennt. Denken Sie nur an die verleumderischen Warnungen der Union in den 1950er Jahren vor der SPD wie auf dem Plakat „Alle Wege führen nach Moskau“ oder Angriffe aus der CDU auf das Schicksal von Willy Brandt, alias Herbert Frahm, als uneheliches Kind und Vaterlandsverräter. Das waren Verleumdungen und persönliche Verunglimpfungen auf einem Niveau, wie sie jetzt zumindest in den Wahlkämpfen von Union, SPD, FDP, LINKE und Grünen nicht zu beachten sind. Die Offline-Angriffe auf Annalena Baerbock sind da Petitessen.

[Lesen Sie auch: Parteibuch statt Qualifikation? Wir müssen endlich besser regiert werden (T+)]

Warum halten Sie die Notwendigkeit einer Dreierkonstellation zum Regieren für ein Problem? In skandinavischen Ländern stellen Parteien mit wenig mehr als 20 Prozent die Regierungschefin oder den Regierungschef. Sind diese Staaten uns in ihrer Entwicklung voraus?

Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen Deutschland und den skandinavischen Ländern: Diese haben eine andere politische Kultur, denn ihre Gesellschaften sind weniger ungleich und stärker gemeinschaftsorientiert. Nur auf einer solchen Grundlage sind  stabile Minderheitsregierungen handlungsfähig und verlässlich. Deutschland ist im Vergleich dazu längst eine polarisierte Gesellschaft. Politische Repräsentanten einer solchen Gesellschaft warten nur darauf, andere Parteien zu schwächen. Es musste allerdings auch in Skandinavien politisch eingeübt werden, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren. 

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Halten Sie es nicht für möglich, dass auch die Deutschen lernen könnten, mit einer Minderheitsregierung zu leben?

Ich glaube nicht, dass wir auf Bundesebene in absehbarer Zeit  Minderheitsregierungen erleben werden. Die Parteien werden aller Voraussicht nach versuchen, eine Dreier-Koalition mit Mehrheit zu bilden. Die politischen Entscheidungen werden schwieriger werden als bislang in einer Zweierkonstellation.  Der gemeinsame Nenner und die politischen Schnittmengen,  werden bei  drei Parteien kleiner als bei zwei Partnern.

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In früheren Wahlkämpfen verfolgte Angela Merkel eine Strategie der asymmetrischen Demobilisierung nach dem Motto: Nichts tun, was die Anhänger der anderen an die Urne treibt. Hat sich Olaf Scholz daran ein Beispiel genommen?

Da ist etwas dran. Gleichzeitig erleben wir  eine  beachtliche  Distanz zwischen dem Kanzlerkandidaten der SPD und dem der Union. Dabei geht es  nur zum Teil um unterschiedliche politische Angebote, aber viel um die Persönlichkeit, um Erfahrung und Auftritt. Ich sehe darin noch kein  Zeichen, dass die Polarisierung der deutschen Gesellschaft auch auf die politischen Eliten durchschlägt. In Deutschland geht die gesellschaftliche Spaltung tiefer als in der demokratischen Politik. Daran ändert nicht einmal die halb-demokratische AFD etwas.

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