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Wer nicht schon mit Familie kommt, sieht sie unter Umständen jahrelang nicht wieder

© Fotalia

Wie nötig ist das Familiennachzugs-Gesetz?: Sachverständige zweifeln am Verhältnis von Aufwand und Ertrag

Seit dem 1. August 2018 dürfen vor allem syrische Geflüchtete wieder Kinder und Ehepartner nachholen, allerdings unter streng begrenzten Auflagen.

Zwei Jahre lang hatten Menschen vor allem aus Syrien keine Chance, auch ihre Kinder und Ehepartner nach Deutschland zu holen – der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte den Familiennachzug zu sogenannten “subsidiär” Geschützten im Rahmen des Asylpakets II 2016 ausgesetzt. Seit genau einem Jahr ist dies wieder möglich: Am 1. August 2018 trat das “Familiennachzugsneuregelungsgesetz “ in Kraft, das die Tür für diese Gruppe von  Flüchtlingen wieder einen Spalt weit öffnete: Seither dürfen wieder jeden Monat bis zu eintausend Familienmitglieder nachziehen.

Gemeint ist damit nur die engste Familie, Ehefrauen und -männer und ihre Kinder – vorausgesetzt, die Kinder sind noch minderjährig. Wenn das Kontingent in einem Monat nichtausgeschöpft wird, auch wenn die deutschen Behörden dies zu verantworten haben, wird dies nicht übertragen, das heißt, die Zahl im Monat darauf darf sich nicht um die fehlenden Fälle erhöhen.

Dennoch öffnete sich im vergangenen Jahr die neue Tür zum Familienleben noch sehr ächzend - obwohl für die Anlaufphase bis Dezember die Monatsgrenze noch nicht galt, sondern insgesamt 5000 Genehmigungen fürs gesamte restliche Jahr. Ganze 112 Visa an Ehepartner, Eltern oder Kinder von bereits hier lebenden Flüchtlingen gab das Auswärtige Amt bis Mitte September aus.

Im August etwa hatten die deutschen Botschaften zwar 853 Anträge geprüft und an die zuständigen Ausländerämter in Städten und Gemeinden weitergeleitet. Die gaben aber nur 65 an das Bundesverwaltungsamt weiter, das wiederum entschied, in 42 Fällen Visa zu erteilen. Auch die Gesamtzahl am Ende des Jahres blieb mit 3.259 deutlich unter den 5000 möglichen Bescheiden.

Sowohl die Linke wie die FDP, deren Bundestagsfraktionen die Zahlen erfragt hatten, protestierten schon im vergangenen Herbst über den engen Flaschenhals der Verwaltung: Bei diesem Tempo werde allein die Bearbeitung der vorliegenden Anträge vier Jahre brauchen, kommentierte die FDP-Migrationspolitikerin Linda Teuteberg. Ulla Jelpke, Innenpolitik-Sprecherin der Linken erklärte, das gebe allen Recht, die vermutet hätten, dass die Praxis vom Gesetz wenig übriglassen werde.

Inzwischen allerdings scheinen Wirklichkeit und Absicht des ein Jahr alten Gesetzes in Übereinstimmung zu sein: Nach den Zahlen, die das Bundesinnenministerium zum Jahrestag veröffentlichte, stimmte das Bundesverwaltungsamt von Februar bis Mai 2019 jeweils genau 1000 Nachzügen zu. Nur im Januar und Juni 2019 lagen die Zahlen darunter (877 und 983 positive Bescheide). "Wir sind sehr erfreut, dass das Verfahren gut angelaufen ist und weitgehend reibungslos läuft", sagte ein Sprecher des Ministeriums dem Tagesspiegel.

Integrationshindernis Einsamkeit

Tatsächlich schränkte von Anfang an nicht vor allem die Umsetzung des Gesetzes den Familiennachzug drastisch ein, sondern schon sein Text: Nachziehen darf auch die Kernfamilie nur, wenn dies aus humanitären Gründen passiert, es dürfen zwar Eltern zu ihren Kindern nachziehen, nicht aber deren Geschwister. Das stellt ihre Eltern mit geflüchteten Kindern vor die Entscheidung, entweder die Kinder in Deutschland weiter allein zu lassen oder die, mit denen sie bisher im Herkunfts- oder Transitland leben.

Außerdem ist der Familiennachzug an enge Bedingungen geknüpft und darf nur aus "humanitären Gründen" gewährt werden, also wenn die bereits in Deutschland lebenden Angehörigen - etwa wegen Krankheit oder Pflegebedürftigkeit - dringend auf ihre Familie angewiesen sind. Bis zur kompletten Aussetzung des Familiennachzugs im März 2016 genügte es, Familie zu sein. Für anerkannte Asylsuchende gilt dies weiter. Im Fall der subsidiär Geschützten, die zwar nicht politisch verfolgt werden, aber denen zu Hause Gefahr für Leib und Leben, etwa durch Kriege, droht, wird angenommen, dass sie ohnehin wieder zurückkehrten, das Nachholen der Familien also weniger dringend sei.

Dass allerdings gerade Menschen aus Syrien in absehbarer Zeit zurückkehren könnten, bezweifeln viele Migrations- und Nahostfachleute. Flüchtlingshelferinnen und -forscher verweisen auch immer wieder darauf, dass Anreize zum Sprachelernen und Arbeiten fehlten und vielen auch die Konzentration, wenn die Sorge um ihre Angehörigen sie ablenkt.

Mehr Arbeit für Konsulate und Ausländerbehörden

Schon als letztes Jahr der Kampf um das Gesetz in der Koalition tobte - die CSU wollte den Familiennachzug zu subsidiär Geschützten ganz einstellen - zweifelten Kennerinnen, dass der Aufwand an politischer Energie und später der für die Verwaltung lohne. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hatte bereits im Herbst 2017 festgestellt, dass es um höchstens 50- bis 60.000 Menschen gehe. Auf drei Flüchtlinge komme statistisch ein Kind, ein Vater oder eine Mutter, die nachzögen, weil die meisten - und meist jungen - Ankömmlinge entweder ledig und kinderlos seien oder bereits mit der Familie angekommen seien.

Pro Jahr, errechnete später der Hallenser Jura-Professor und Migrationsfachmann Winfried Kluth, seien das höchstens 12.000 Menschen - also gerade die Zahl, die das Gesetz als Höchstgrenze vorschreibt. Indem sie in ein Gesetz geschrieben werde, entstehe aber "hoher administrativer Aufwand", merkte dazu der unabhängige Sachverständigenrat Integration und Migration (SVR) in seinem jüngsten Gutachten 2019 an. Den hätten sowohl die Ausländerbehörden hier wie die deutschen Auslandsvertretungen zu tragen und außerdem eine zuständige Behörde, die bisher ohne jede Erfahrung im Verwalten von Einwanderung sei, das Bundesverwaltungsamt.

Es könne insofern, so die Sachverständigen, "durchaus bezweifelt werden, ob Aufwand und Ertrag hier in einem angemessenen Verhältnis stehen".

UNHCR: Deutschland macht Grundrecht auf Familie zur Farce

"Ein Riesenthema schon in den Koalitionsverhandlungen und jetzt ein Riesenverfahren für wenig Ertrag", findet die SVR-Vorsitzende Petra Bendel auch nach einem Jahr Erfahrungen mit der Regelung. Sie wünscht sich eine Evaluation des Gesetzes. Man wisse gar nicht, wie es angewendet werde: "Wer wird aus welchen Gründen abgelehnt? Wie kann, wer Familiennachzug beantragt, seine humanitären Gründe, etwa Pflegebedürftigkeit, glaubhaft machen - in Herkunfts- oder Transitstaaten, deren Verwaltung höchstens unvollständig funktioniert?"

Sie verweist zudem auf die langen Wartezeiten allein auf einen Termin in den deutschen Konsulaten und Botschaften. "Bis zum ersten Termin kann es Wochen, Monate, manchmal über ein Jahr dauern." In Teheran etwa sind bis zum ersten Termin auch schon einmal mehr als zwei Jahre nötig.

Das war tatsächlich bereits ein Punkt für viel Kritik im Vorfeld: Dass die langen Wartezeiten und der Mahlstrom der Verwaltung dazu führen würden, dass eigentlich Nachzugsberechtigte zu alt würden, um noch nach Deutschland zu kommen. Durch die Volljährigkeitsvorschrift fallen schon einmal etliche Kinder heraus, die bis 18 eigentlich ein Recht auf ihre Familien hätten - auch nach den seit einem Jahr gültigen wenig familienfreundlichen Regeln.

Die kritisierte jetzt zum Jahrestag sehr deutlich das UNHCR. "Es gibt in allen Kulturen kaum eine wichtigeren Wert als die Familie", erklärte der Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Deutschland, Dominik Bartsch. "Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, dass minderjährige Flüchtlinge zwar ihre Eltern nachholen können, nicht aber ihre minderjährigen Geschwister." Das Gesetz mache damit "ein Recht zur Farce".

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