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Ein Land für alle wünscht sich die Kommission. Migrationshintergrund soll nicht mehr ständig im Vordergrund stehen.

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Update

Wie integrationsfähig ist Deutschland?: Kommission: Migrationshintergrund ist nicht mehr zeitgemäß

Was hält ein Einwanderungsland zusammen? Ein von der Regierung berufenes Fachgremium meint: Vor allem gleiche Chancen für alle.

Eine Kommission von 25 Fachleuten aus Kommunalpolitik, Behörden und Wissenschaft empfiehlt den Abschied vom “Migrationshintergrund”. Das Wort sei vor 15 Jahren eingeführt worden, inzwischen habe sich die Gesellschaft aber stark geändert, sagte die Staatsministerium für Integration, Annette Widmann-Mauz (CDU), während der Vorstellung des Abschlussberichts der Kommission. Die Bundesregierung hatte die “Fachkommission  Integrationsfähigkeit” vor zwei Jahren berufen. Dass der Begriff inzwischen sehr viele und unterschiedliche Gruppen umfasse – Geflüchtete, Kinder und Enkelkinder der Gastarbeitergeneration wie auch Menschen, die seit Generationen hier lebten – “schmälert seine Aussagekraft”, sagte Widmann-Mauz. Viele fühlten sich dadurch behandelt, “als würden sie nie zu 100 Prozent dazugehören, als stünde dieser Hintergrund immer im Vordergrund." Viele der 21 Millionen Menschen, die er meine, "fühlen sich nicht abgebildet”. Das werde sich sicher nicht über Nacht ändern lassen, man könne es sich aber für die Zukunft vornehmen.

Integration geht alle an, "die hier und die, die gekommen sind"

Derya Caglar, SPD-Politikerin, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und eine der beiden Vorsitzenden des Gremiums, sagte, wenn dieser Begriff nicht mehr verwendet würde, “wäre ich nicht mehr Migrantin, sondern die Tochter von Eingewanderten. Meine Kinder wären einfach nur noch Deutsche.” Die Kommission hoffe, dass ihre Empfehlungen im Bundestag gehört und im Falle einer Neuregelung des Gesetzes berücksichtig würden.

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Die Kommission schlägt anstelle von "Menschen mit Migrationshintergrund" “Eingewanderte und ihre Nachkommen” vor, hofft aber auf eine breite öffentliche Debatte darüber. Auch für Flüchtlinge empfiehlt sie eine Änderung; sie hält “Schutzsuchende” für passender.

Die 2019 berufene Fachkommission hatte den Auftrag, Standards zu entwickeln, wie sich im Einwanderungsland Deutschland der gesellschaftliche Zusammenhalt befestigen lässt. Dabei sollte ausdrücklich die Integrationsfähigkeit nicht nur der Neuen, sondern auch der alteingesessenen Bevölkerung und von Verwaltung und Institutionen untersucht werden. Es werde auch um  "Aufnahmebereitschaft und Aufnahmewillen" der Alteingesessenen gehen, betonte seinerzeit Staatssekretär Markus Kerber aus dem Bundesinnenministerium. Die Kommission zu berufen, war 2018 im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD verabredet worden, ursprünglich sollte sich ihr Auftrag darum drehen, die "Grenzen der Integrationsfähigkeit" auszuloten.

An diesen Auftrag erinnerte die Integrationsbeauftragte Widmann-Mauz mit ihrem Hinweis darauf, dass der "Bericht zur rechten Zeit" komme. Ereignisse wie der Sturm aufs Kapitol in Washington, "die Suche nach Sündenböcken entlang von Herkunft und Religion", die Konjunktur für Verschwörungsmythen zeigten: Die Demokratie, der Respekt voreinander und der Zusammenhalt sind gefordert wie nie zuvor". Unter den Integrationsempfehlungen an die "Altsassen" (Kerber) nannte der Ko-Vorsitzende der Kommission, Bonns früherer Bürgermeister Ashok-Alexander Sridharan (CDU) den Kampf gegen Hasskriminalität. "Das geht alle an, die die hier sind und die, die gekommen sind."

Minister Heil: Neuer Aufbruch in der Integrationspolitik

Die beiden Vorsitzenden traten scharf dem Eindruck entgegen, ihre Kommission habe sich in Streitigkeiten festgefahren - wozu auch eine Vorabveröffentlichung eines Berichts im Sommer beigetragen hatte. Man habe von kontrovers diskutiert, sagte Derya Caglar, "nicht nur am Anfang, sondern kontinuierlich, noch bis vor wenigen Monaten". Der Schlussbericht sei einstimmig verabschiedet worden. Dass so ein Prozess mit kontroversen Diskussion verbunden sei, so ihr Kollege Sridharan,

sei, wie er annehme, auch in Redaktionen üblich. Der 280 Seiten starke Bericht enthält am Ende auch die in Teilen abweichenden Stellungnahmen des Konstanzer Migrationsjuristen Daniel Thym, der früheren Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John, des Dachauer Landrats Stefan Löwl und der Soziologin Susanne Worbs. Worbs hat die Forschungsstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mit aufgebaut.

Kerber und Widmann-Mauz lobten die Vielfalt auch der Experten, die man genau deswegen berufen habe, Kerber zudem ihre Offenheit, etwa in der Frage von Abschiebungen. "Die Kommission drückt sich hier nicht", wie sie auch Verteilungskonflikte - etwa um Wohnraumm - nicht verschweige, die entstünden, wenn eine Gesellschaft wächst. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), einer der Auftraggeber der Kommission ergänzte, er habe den Eindruck, dass die Deutschen in der Integrationspolitik "im Begriff zu einem neuen Aufbruch sind". Widmann-Mauz sagte, sie hoffe, der Bericht werde dazu beitragen, "Integration neu zu denken und sie von Migration zu entkoppeln".

Thomas Liebig, Volkswirt und Migrationsfachmann der OECD mit Sitz in Paris und eines der 25 Kommissionsmitglieder, erinnerte im Gespräch mit dem Tagessspiegel daran, dass es das Ziel des Berichts war, "Deutschlands Integrationssystem zukunftsfest zu machen". Außerdem zeige er auf, "wo wir stehen und was erreicht worden ist. Das ist zum Teil ganz beachtlich", etwa in puncto Arbeitsmarkt, Bildung, Sprache, sozialer Integration, aber auch Migrationssteuerung. Für ihn selbst sei besonders wertvoll, dass er erstmals einen umfassenden Überblick über alle Felder gesellschaftlicher Integration gebe. Er lege zugleich auch die Fakten "klar und kohärent" auf den Tisch, sei es zum Thema Kriminalität, Sozialsysteme, Medien und Diskriminierung und benenne auch politische Zielkonflikte. Viele davon seien naturgemäß gar nicht auflösbar, zum Beisipel der zwischen dem Ziel, Menschen zu integrieren, andererseits aber die Einwanderung zu begrenzen und nach wirtschaftlichen Erfordernissen zu steuern. "Damit wird der Bericht hoffentlich auch für die Zukunft ein Referenzdokument".

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