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Schülerinnen und Schüler besuchen das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin.

© Florian Schuh/dpa

Wie erzählen wir von Auschwitz?: Auch den Kindern muss das Ausmaß des Grauens deutlich werden

Nur wer die Größe der Verantwortung begreift, kann für das Morgen lernen. Zumal es bald keine Lager-Überlebenden mehr geben wird, die wir fragen können.

Am 27. Januar 1945 wachten die 7500 verbliebenen Häftlinge in Auschwitz auf und entdeckten, dass sie freie Menschen waren. In den fünfundsiebzig Jahren, die seither vergangen sind, kamen die Ausmaße des Grauens und der Umfang des Mordens ans Tageslicht. Heute, da die überwältigende Mehrheit der Überlebenden des Lagers nicht mehr unter uns weilt, erkennt man die Bedeutung des Moments der Befreiung umso klarer: Der Tag, an dem Auschwitz befreit wurde, ist der Tag, an dem der Kampf ums Überleben aufhörte und der Kampf um die Erinnerung anfing.

Auschwitz ist eine historische Tatsache, so festgefügt und unverrückbar wie die rötlichen Backsteine des Lagertors, doch die Bedeutung, die diesem Faktum beigemessen wird, variiert von Mensch zu Mensch und von Nation zu Nation. Ich spreche jetzt nicht über Holocaustleugner, über Menschen, die zu behaupten wagen, in Auschwitz habe keine beispiellose, systematische Vernichtung des jüdischen Volkes stattgefunden.

Sprechen möchte ich gerade über diejenigen, die sich erinnern wollen, sich der Gräuel des Lagers bewusst sind, aber über die Bedeutung streiten: Geht es darum, was in der Vergangenheit geschehen ist, oder um das Warum? Die Vergangenheit ist nie nur vergangen, sondern strahlt immer auch auf die Zukunft aus.

Unsere persönliche Geschichte liefert die Bausteine, mit denen wir unsere Zukunft aufbauen. Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, meine Mutter und mein Vater, meine Kindheitserlebnisse – das sind die Rohstoffe für alles später Erbaute. Aber es geht hier nicht um Fatalismus, denn kein Mensch weiß, welches spezifische Gebäude jeder Einzelne mit seinen Bausteinen errichten wird. Der eine erbaut sich einen Abklatsch des elterlichen Lebens, seines Elternhauses. Der andere tut genau das Gegenteil. Manche von uns benutzen die Bausteine ihrer Kindheit, um eine riesige Mauer zu errichten, zwischen ihrem heutigen Sein und ihrer Herkunft.

Und genauso, wenn auch in größerem Umfang, liefert die Vergangenheit einer Nation die Bausteine für die Gestaltung ihrer Zukunft. Wird sie ein monumentales Abbild der Vergangenheit errichten? Oder eine hohe Mauer, um sich dagegen abzuschotten?

Der Kampf um die Erinnerung hat politische Folgen

Das sind keine intellektuellen Fragen. Der Kampf um die Erinnerung erstarkt, und das mit gewichtigen politischen Auswirkungen. Er beeinflusst die Beziehungen zwischen Polen und Russland, die sich heute über die Frage streiten, ob die Polen Hitler unterstützten oder seine Opfer waren. Der russische Präsident Wladimir Putin spricht in Kabinettssitzungen über den Anteil Polens im Krieg. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki beschuldigt die Russen im Gegenzug, Hitler mit zum Aufstieg verholfen zu haben. Diese aktuelle historische Debatte tangiert die Bereitschaft des polnischen Regierungschefs, zum 75-jährigen Gedenken an die Befreiung von Auschwitz nach Israel zu reisen.

Die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen.
Die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen.

© Simone Padovani/Awakening/Getty Images

Israel, das Land, in dem ich aufgewachsen bin, konfrontiert Kinder seit Langem mit den wahren Erlebnissen der Holocaustüberlebenden. Einmal im Jahr, am Holocaustgedenktag, besuchen Überlebende die Schulen, um ihre Geschichte zu erzählen. Ich erinnere mich gut an diese Szenen. In Grundschule, Mittel- und Oberstufe fanden wir im Klassenzimmer die Mathematik- oder Englischlehrerin in Gesellschaft eines alten Mannes oder einer alten Frau vor. Heute gebe es keinen Fachunterricht, erklärte man uns, stattdessen würden wir etwas anderes lernen.

Eine gewisse Dringlichkeit lag in der Luft. Die Überlebenden waren sichtlich alt oder gar hochbetagt. Häufig sagten uns die Lehrkräfte, wir sollten aufmerksam zuhören, denn später mal würden die Überlebenden nicht mehr unter uns sein, und die Verantwortung für die Vermittlung der Fakten ginge auf unsere Generation über.

Nach der Befreiung wurde der Name „Auschwitz“ verstaatlicht

Wenn der letzte Überlebende das Zeitliche segnet, wird keiner mehr sagen können, „ich bin dort gewesen“. Irgendwann wird es keine Zeitzeugen mehr geben, und wir müssen uns damit abfinden, nur noch Zeugnis aus zweiter Hand zu haben – den Schatten des echten Erlebens, eine Erzählung. Das Wort „Erzählung“ ängstigt uns, denn eine Erzählung ist nicht die Wahrheit. Eine Erzählung kann man anfechten. Aber Auschwitz ist längst nicht mehr nur die Summe aller Fakten, ist es vielleicht nie gewesen.

Die Erinnerung an Auschwitz war den Nationen zu wichtig, um sie den Überlebenden zu überlassen. Gleich nach der Befreiung des Lagers wurde der Name „Auschwitz“ den wahren Lagerinsassen weggenommen, wurde verstaatlicht und in Gemeineigentum verwandelt. Auschwitz ist ein Symbol, aber mehr noch ist es Baumaterial für das israelische und das deutsche Nationalgefüge. Die Bausteine sind identisch, aber welches Gebäude wird jede Nation daraus errichten?

„Nie wieder“ gilt vielen als Rechtfertigung für die Politik Israels

Die israelische Nation, der ich angehöre, hat aus den Bausteinen der jüdischen Vergangenheit eine Festung errichtet. Angesichts der Bilder von Auschwitz schworen wir, nie mehr Opfer zu sein. Niemals würden wir zulassen, dass unsere Kinder das durchmachten, was den Kindern im Vernichtungslager geschehen war. Das Gebot „nie wieder“ dient vielen auch als Rechtfertigung für das gegenwärtige Verhalten Israels gegenüber seinen Feinden. Im israelischen Diskurs ist der Vergleich zwischen Palästinensern und Nazis geläufig, wird die politische Gegenwart durch die Brille der Vergangenheit gedeutet.

Der israelische Ministerpräsident, Benjamin Netanjahu, sah sogar eine historische Verbindung zwischen dem Kampf der Palästinenser und der Endlösung. In einer Rede vor dem Zionistischen Weltkongress in Jerusalem sprach er das Treffen des Großmuftis von Jerusalem mit Adolf Hitler im November 1941 an.

„Hitler wollte die Juden zu dem Zeitpunkt nicht vernichten, er wollte sie vertreiben“, sagte Netanjahu. „Hadsch Amin al-Husseini ist zu Hitler gegangen und hat ihm gesagt: ,Wenn ihr sie vertreibt, werden sie alle herkommen (nach Palästina).’“ Laut Netanjahu fragte Hitler: „Was soll ich denn dann mit ihnen machen?“, und der Mufti antwortete, „sie verbrennen“. Auf heftige Kritik von Holocaustforschern aus aller Welt nahm Netanjahu das Gesagte zurück, aber es verweist auf einen breiteren Gedankengang, der diesen konkreten Fall übersteigt.

Palästinenser vergleichen israelische Soldaten mit Nazis

Historiker, die israelische Jugendliche auf ihren Gruppenreisen nach Auschwitz begleiteten, entdeckten eine deutliche Korrelation zwischen dem Besuch im Vernichtungslager und dem Anstieg militaristischer Einstellungen unter den jungen Israelis. Man kann leicht verstehen, warum.

Nicht weniger besorgniserregend ist andererseits die palästinensische Rhetorik, die israelische Soldaten gern mit Nazis vergleicht. Obwohl ich entschieden gegen die Besatzung und die nationale Unterdrückung, die Israel in den Gebieten praktiziert, eintrete, sehe ich doch einen großen Unterschied zwischen all dem und der industriellen Vernichtung von deutscher Seite.

Dieser Unterschied kommt in dem speziellen Wort „Schoah“ zum Ausdruck, das vom Hebräischen in andere Sprachen eingegangen ist und die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte bezeichnet. Die Einzigartigkeit der Schoah ist bedeutsam, denn sie zeigt, in welchen Fanatismus der Mensch abgleiten kann. Zu meinem Leidwesen gibt es in Israel Leute, die diese Einzigartigkeit als ewigen Freibrief für Israels Verhalten betrachten.

Auschwitz sollte ein Aufruf zur Humanität sein

Aber die Erinnerung an Auschwitz muss nicht zwangsläufig in falkenhafte Ansichten umschlagen. Sie kann auch die Grundlage für menschliche Verantwortung legen, für die Erkenntnis, dass wir nicht nur für die Angehörigen unseres Volkes Verantwortung tragen, sondern für jeden Menschen als solchen.

Im Jerusalemer Eichmann-Prozess bezeichnete der Holocaustüberlebende Kazetnik Auschwitz als einen „anderen Planeten“. Dazu sagte Jossi Sarid: „Und vielleicht liegt das wahre Grauen gerade darin, dass es kein anderer Planet war, gerade darin, dass es derselbe Planet war, der Planet der Menschheit, unser Planet.“

Sarid, ein linker Politiker, der Frieden mit den Palästinensern anstrebte, nahm Auschwitz nicht als Rechtfertigung für Nationalismus. Er sah darin einen Aufruf zur Humanität. Wenn wir über die Bedeutung der Erinnerung in Israel sprechen, diskutieren wir die Frage, welches Gebäude wir hier errichten sollen, welches sittliche Gebot uns vor Augen steht. Ich hoffe, Sarids Einstellung wird über die von Netanjahu siegen, auch wenn es derzeit eher danach aussieht, dass die Erinnerung zur Errichtung einer stärker denn je befestigten Wirklichkeit benutzt wird.

Die Deutschen sprechen heute immer weniger von „unseren Gräueln“

Und wie möchten die Deutschen Auschwitz in Erinnerung behalten? Ich bin keine Deutsche und deshalb sehr vorsichtig mit meinen Worten. Aber nach meinem Empfinden, als Beobachterin von außen, macht der Begriff „Auschwitz“ schrittweise einen Bedeutungswandel durch, von „unseren Gräueln“ zu den „Gräueltaten der Nazis“. Man spricht lieber von Hitler als „Naziführer“ denn als „Führer der Deutschen“, eine Unterscheidung, die dem heutigen Deutschland sehr zupasskommt.

Genau vor einem Jahr war der deutsche Film „Werk ohne Autor“ von Florian Henckel von Donnersmarck für den Oscar nominiert, eine Geschichtsklitterung, die die Deutschen als die großen Opfer Hitlers präsentiert. Dieser Film über die Zeit des Zweiten Weltkriegs stellt das Leid der Deutschen in den Mittelpunkt, ohne das Leid, das die Deutschen sechs Millionen Juden zugefügt haben, auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Wenn es um das von Deutschen angetane Leid geht, tritt meist ein Dämon in Menschengestalt namens Hitler als Verursacher auf.

Wir haben den Teufel erfunden, um ihm die Schuld anzuheften

Viel ist über die Erfindung Gottes geschrieben worden, aber vielleicht sollte man kurz über die Erfindung des Teufels nachdenken. Wir haben den Teufel erfunden, um ihm die Schuld für das Böse ringsum anzuheften, ihm die zahllosen Sünden und Untaten unserer Welt aufzuhalsen. Der Teufel ist unsere Ausrede. Solange wir uns vor ihm fürchten, ihn schmähen und verfluchen, sind wir frei von der schwersten Last – der Verantwortung für das Böse in uns.

Wenn Hitler der Satan war, steckte das Böse ja in ihm und nicht in uns. Die Faszination, die Hitler auf das deutsche Volk ausübte, war eine Art Verhexung oder Verführung, die sowohl eine teuflische und aktive als auch eine arglose und passive Seite hatte. Man kann das seelische Bedürfnis nach solch einem Satan verstehen, aber man darf diesem Drang nicht nachgeben. Die Zukunft fordert uns dazu auf, der Vergangenheit klar und mutig ins Auge zu schauen.

Können Farbfotos von Auschwitz die Distanz aufheben?

Diese Woche las ich von dem Vorhaben des britischen Channel 4, die Schwarzweißfotos von Auschwitz zu kolorieren, um die junge Generation von heute an das einstige Geschehen heranzuführen. Schwarzweißbilder werden mit der Geschichte assoziiert, und die Geschichte ist etwas Fernes, das uns nichts angeht. Mit der Einfärbung der Bilder will man nicht nur gegen das Vergessen, sondern vor allem auch gegen die Distanz ankämpfen.

Wir können uns an etwas erinnern, aber distanziert bleiben. So kann ich mich beispielsweise daran erinnern, dass 1917 der Erste Weltkrieg tobte, ohne davon irgendwie berührt zu werden, es sei denn, es kommt ein besonders blutiger Film, der mir das Grauen jenes Krieges etwas nahebringt und deshalb für den Oscar nominiert wird – wie jetzt der amerikanische Streifen 1917.

Hollywood erzählt lieber vom „Sieg des Guten“

Die Erinnerung an Auschwitz ist nicht nur eine israelische und deutsche Angelegenheit, sondern auch eine für Hollywood. Und wie jede Hollywood-Angelegenheit unterliegt sie finanziellen und publikumsbezogenen Erwägungen sowie unserer kulturell bedingten Sucht nach dem „Sieg des Guten“.

Im Mittelpunkt des britischen Films „Der Junge im gestreiften Pyjama“ steht ein deutscher Junge, der seinem jüdischen Freund helfen will. Auch der hochgelobte Hollywood-Streifen „Jojo Rabbit“ dreht sich um einen deutschen Jungen, der sich langsam dazu durchringt, einem jüdischen Mädchen zu helfen. Beide gesellen sich zu dem deutschen Roman „Jeder stirbt für sich allein“, dessen Protagonisten, ein deutsches Ehepaar, gegen die NSDAP agieren. Anhand dieser Kulturerzeugnisse könnte man meinen, es hätte mehr Kriegsgegner als Kriegsteilnehmer unter den Deutschen gegeben. Wie bequem.

Des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz wird diese Woche in israelischen Schulen gedacht. Ich habe keine Ahnung, ob das auch an deutschen Schulen geschieht. Ich hoffe es sehr. Ich hoffe, dass jedes Kind in Berlin und jedes Kind in Tel Aviv mit diesen Fotos – in Schwarzweiß oder Farbe – konfrontiert und aufgefordert wird, ihnen praktische Bedeutung zu geben. Ich hoffe, diese Bedeutung wird nicht nur die Untaten der Vergangenheit betreffen, sondern auch unsere – persönliche und nationale – Verantwortung für die Zukunft. Nicht nur das Ausmaß des Grauens müssen wir denen, die keinen Lagerüberlebenden mehr begegnen können, verdeutlichen, sondern auch und vor allem die Größe der Verantwortung.

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