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Fehlende Transparenz: Viele Bundesländer halten ihre Qualitätsberichte über Pflegeheime unter Verschluss.

© Arno Burgi/dpa

Wie Corona in den Pflegeheimen wütete: Bis zu 80 Prozent Übersterblichkeit in der zweiten Welle

Soziale Isolation und eine drastische Übersterblichkeit: Eine Studie belegt, wie schlecht der Schutz von Heimbewohnern in der Pandemie war.

Die Sterblichkeit von Pflegeheimbewohnern in Deutschland ist in den ersten beiden Pandemiewellen drastisch gestiegen. Das belegt der aktuelle Pflegereport des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) nochmal auf eindrucksvolle Weise.

Demnach lag die Letalität in Pflegeheimen rund drei Wochen nach dem Start des ersten Lockdowns (6. bis 12. April 2020) um 20 Prozent höher als im Mittel der Vorjahre. In den ersten drei Monaten der zweiten Pandemiewelle von Oktober bis Dezember 2020 überstieg sie das Niveau der Vorjahre dann um durchschnittlich 30 Prozent. Und in der Spitze betrug die Übersterblichkeit in der 52. Kalenderwoche 2020 sogar 80 Prozent.

„Die Infektionsschutzmaßnahmen während der Pandemie reichten nicht aus, um die im Heim lebenden pflegebedürftigen Menschen ausreichend zu schützen“, fasst Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO und Mitherausgeberin des Reports, den Befund zusammen.

Diese grundlegende Erkenntnis müsse für künftige Pandemiekonzepte ebenso berücksichtigt werden wie die deutlichen gesundheitlichen Folgen für die Pflegebedürftigen – insbesondere auch die psychischen Belastungen aufgrund der verhängten Isolation.

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„Dialektik zwischen Schutz und Wahrung der Menschenwürde“

Die „Dialektik zwischen Schutz vor Infektion und Wahrung der Menschenwürde und Autonomie“ stelle eine „stetige Herausforderung“ dar, heißt es in der Studie. Tatsächlich waren die Einschränkungen für Menschen in den Pflegeheimen, wie eine Angehörigen-Befragung des WIdO mit Blick auf die erste Pandemiewelle ergab, erheblich spürbar.

43 Prozent – also fast die Hälfte – gaben an, dass ein persönlicher Kontakt zu den Pflegebedürftigen zwischen März und Mai 2020 überhaupt nicht möglich gewesen sei. Und rund zwei Drittel der Befragten nahmen auch eine Verschlechterung der geistigen Fitness und der psychischen Gesundheit ihrer Angehörigen in der stationären Pflege wahr.

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Die Ergebnisse des Pflegereports sind Bestandteil des vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) geförderten Forschungsprojekts „Covid-Heim“, das die Charité-Universitätsmedizin Berlin in Kooperation mit dem WIdO durchführt.

Dabei wurde für alle Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen unter anderem nach Kalenderwochen analysiert, wie sich die Sterblichkeit entwickelt hat. Ort und Ursache des Versterbens spielten dabei keine Rolle.

Entsprechend weisen die Analysen auch auf Phasen mit deutlich erhöhter Sterblichkeit unabhängig von Covid-19 in den Jahren vor der Corona-Pandemie hin. So gab es beispielsweise bei den Grippewellen im März 2018 und auch im Februar 2017 und 2015 einen Peak, der die Zahl von 2020 merklich übertraf.

Und auch Anfang August 2018 übertraf die Sterblichkeit von Pflegeheimbewohnern kurzzeitig die des Jahres 2020 – was wohl der damaligen Hitzewelle geschuldet sein dürfte. Deshalb gelte auch diese Ursachen weiter zu untersuchen und hinsichtlich der Bedeutung für Heimbewohner in den Blick zu nehmen, so Schwinger.

Jeder dritte Covid-19-Fall über 60 kam aus einem Heim

Was die Corona-Zeit betrifft, starben während der zweiten Pandemiewelle zwischen Oktober und Dezember 2020 im Schnitt neun von 1.000 Pflegeheimbewohnern. Das entspricht einer Übersterblichkeit von 30 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren 2015 bis 2019. Bis Anfang Dezember erhöhte sich die Letalität immer weiter, am Ende des Jahres lag sie dann mit 13 Verstorbenen pro 1000 Heimbewohner um 81 Prozent höher als in den entsprechenden Vorjahreswochen.

Am Beispiel der ersten Welle – hier liegen neben den Abrechnungsdaten aus den Krankenhäusern auch die ambulant-ärztlichen Daten bereits vor – werde das Ausmaß der Pandemie-Betroffenheit von Pflegeheimen besonders deutlich, heißt es in der Studie. So entfiel zwischen April und Juni 2020 entfiel jede dritte Covid-19-Diagnose bei allen über 60-Jährigen auf Pflegeheim-Bewohner.

Bezogen auf die im Krankenhaus Versorgten mit Covid-Diagnose zeigt sich ein ähnliches Bild: Hier lag der Anteil der vollstationär Pflegebedürftigen bei 30 Prozent. Ob die Covid-19-Infektion Auslöser der Krankenhauseinweisung war oder erst während des Aufenthalts erworben wurde, bleibt bei dieser Erhebung jedoch offen.

Der Anteil der Krankenhauspatienten über 60, die von April bis Juni 2020 mit Covid-19-Diagnose verstarben, war bei vollstationär Pflegebedürftigen noch höher, er betrug 45 Prozent. Bei den alten Menschen, die nicht oder nur ambulant pflegebedürftig waren, lag die Sterblichkeit lediglich bei 25 Prozent.

Und vor allem bei den Jüngeren fallen hier weit höhere Zahlen in den Blick: Während 36 Prozent der 60- bis 64-Jährigen Pflegeheimbewohnenden starben, wenn sie mit Covid-19 im Krankenhaus waren, lag die Rate der gestorbenen Nicht-Pflegeheimbewohnern bei nur neun Prozent.

Erst mit steigendem Alter nähern sich die Sterbewahrscheinlichkeiten beider Gruppen an. „Pflegeheimbewohnende dürften aufgrund ihrer hohen Multimorbidität deutlich eher als andere Personengruppen gleichen Alters verstorben sein, wenn sie an Covid-19 erkrankten“, so Pflegeexpertin Schwinger.

40 Prozent durften drei Monate lang kaum aus ihrem Zimmer

Auch die Angehörigen-Befragung zu den Auswirkungen der Schutzmaßnahmen lieferte erschreckende Ergebnisse. Nach Angaben der Bezugspersonen war es zwischen März und Mai 2020 für 15,5 Prozent der Pflegebedürftigen Personen gar nicht möglich, ihr Zimmer zu verlassen. Weiteren 24,5 Prozent wurde das nur selten erlaubt. Entsprechend beobachteten die Angehörigen während der Pandemie deutlich negative Veränderungen des körperlichen, geistigen und psychischen Zustands der Betroffenen.

Mehr als 70 Prozent berichten, dass diese häufiger Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein erlebt hätten, öfter niedergeschlagen und antriebslos gewesen seien (68 Prozent),  dass sich ihre geistige Fitness verschlechtert habe und dass sie beim Gehen, Aufstehen oder Treppensteigen auch weniger beweglich geworden seien (56 Prozent).

Insgesamt zeichnet die Untersuchung ein bedenkliches Versorgungsbild der Heimbewohner. Maßnahmen, die Pflegebedürftige vor Ansteckung mit Covid-19 schützen sollten, führten gleichermaßen zu erheblichen Einschnitten in der Versorgung und in der Folge zu starker Isolation und einer Zunahme psychischer Belastungen, schreibt Schwinger.

Deshalb müsse jetzt untersucht werden, wie Isolation, Kontaktsperren zu Angehörigen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit das Leben der Heimbewohner beeinflusst hätten „und welche technischen, baulichen, rechtlichen und personellen Veränderungen und Ressourcen benötigt werden, um zu vermeiden, dass sich eine solche Situation wiederholt“. Was auf keinen Fall nochmals geschehen dürfe, sei eine generelle Isolierung alter Menschen von der Außenwelt und ihren Angehörigen.

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