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Bundeskanzler Olaf Scholz (rechts) wird am Freitag in der kosovarischen Hauptstadt Pristina empfangen.

© Michael Kappeler/dpa

Westbalkan-Reise des Kanzlers: Wenn Zögern zum Fehler wird

Olaf Scholz besucht den Westbalkan, um dort die EU-Beitrittsperspektive hochzuhalten. Noch besser wäre eine Kanzler-Reise nach Kiew gewesen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Albrecht Meier

Bekanntlich will Bundeskanzler Olaf Scholz nicht zu einem reinen „Fototermin“ nach Kiew reisen. Nach der Meinung des Kanzlers lohnt ein Besuch in der ukrainischen Hauptstadt nur, wenn „ganz konkrete Dinge“ zu besprechen sind. In der Region des westlichen Balkans gibt es hingegen aus seiner Sicht offenbar genug Konkretes, das jetzt einen Besuch lohnt.

Ähnlich wie die Ukraine, die auf eine EU-Beitrittsperspektive hofft, wollen auch die Westbalkan-Länder Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina der EU beitreten. Allerdings machen sie sich schon sehr viel länger Hoffnungen auf eine Mitgliedschaft als die Ukraine.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den Antrag auf den EU-Beitritt kurz nach dem Beginn der russischen Invasion unterzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt liefen die EU-Beitrittsverhandlungen mit Serbien und Montenegro bereits seit mehr als acht Jahren. Und schon seit Langem hoffen Albanien und Nordmazedonien, dass sie ebenfalls Verhandlungen mit Brüssel aufnehmen können. Doch dies wird vom EU-Mitglied Bulgarien wegen eines bizarren Geschichtsstreits blockiert.

Vor diesem Hintergrund setzt Scholz mit seiner zweitägigen Visite in der Region ein ganz bewusstes Zeichen. Er hält es für angezeigt, dass die EU ihre langjährigen Versprechungen gegenüber dem Westbalkan einlöst. Wenn es Scholz bei seiner Reise gelingen würde, die bulgarische Regierung von ihrer Blockade gegenüber dem EU-Beitrittskandidaten Nordmazedonien abzubringen, wäre dies sicherlich ein diplomatischer Coup. Doch danach sieht es nicht aus.

Noch besser wäre es deshalb gewesen, wenn Scholz in diesen Tagen nach Kiew gereist wäre. Dort erhofft sich Selenskyj eine klare Positionierung der Bundesregierung für eine Beitrittskandidatur der Ukraine. Eine solche Festlegung in Berlin – das wäre tatsächlich eines jener „konkreten Dinge“, von denen der Kanzler zuvor ziemlich unkonkret mit Blick auf eine Kiew-Reise gesprochen hat.

Zwei Wochen vor dem EU-Gipfel soll Streit vermieden werden

Es mag sein, dass die Unbestimmtheit des Kanzlers in der Beitrittsfrage der Ukraine taktische Gründe hat. Das Thema ist unter den 27 EU-Staaten hoch umstritten. Andere Länder wie Frankreich stehen noch mehr auf der Bremse als Deutschland. Staatschef Emmanuel Macron erklärte sogar, dass „Jahrzehnte“ vergehen würden, bevor die Ukraine der Gemeinschaft beitreten könnte. In dieser Situation will Scholz womöglich einen offenen Streit in der Gemeinschaft vermeiden, bevor beim EU-Gipfel in zwei Wochen über den Kandidatenstatus für die Ukraine beraten wird.

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Dennoch ist Scholz’ Zögern ein Fehler. Die Verleihung des Kandidatenstatus wäre ohnehin nur der erste Schritt auf einem langen Weg Richtung EU. Andererseits wäre es aber zum jetzigen Zeitpunkt eine Ermutigung für die Ukrainer in ihrem Abwehrkampf gegen Wladimir Putin.

Natürlich kann es keinen Beitritts-Rabatt für die Ukraine geben. Weit verzweigte Korruption, immer noch bestehende Oligarchenstrukturen und rechtsstaatliche Mängel gehören zu den Dingen, die in jedem Fall behoben werden müssen, bevor die Ukraine wirklich beitrittsreif ist. Aber seit dem Beginn der russischen Aggression hat sich der Fokus verändert: Weil im Kriegsgebiet im Osten der Ukraine gegenwärtig auch die demokratischen Werte der EU verteidigt werden, ist es die EU dem angegriffenen Land schuldig, eine klare Beitrittsperspektive aufzuzeigen.

Macrons „EU-Mitgliedschaft light“ ist keine Perspektive für Kiew

Der Warteraum draußen vor der EU in Form einer „europäischen politischen Gemeinschaft“, über den Macron räsonniert hat, ist jedenfalls für Kiew nicht ausreichend. Eine „EU-Mitgliedschaft light“ würde für Kiew wie ein Trostpreis wirken. Das gilt übrigens auch für alle anderen Staaten, die in die Gemeinschaft streben – also die Westbalkan-Länder sowie Georgien und Moldau. Im Fall der Türkei stellt sich wiederum angesichts der offenkundigen demokratischen Rückschritte in den vergangenen Jahren ernsthaft die Frage, ob ein EU-Beitritt je in Frage kommt.

Der ukrainische Präsident Selenskyj setzt darauf, dass sich die Bundesregierung für eine EU-Beitrittskandidatur der Ukraine ausspricht.
Der ukrainische Präsident Selenskyj setzt darauf, dass sich die Bundesregierung für eine EU-Beitrittskandidatur der Ukraine ausspricht.

© Efrem Lukatsky/dpa

Sollte man aber die Beitrittswünsche der Westbalkan-Staaten und der neuen Beitrittskandidaten in spe – Ukraine, Georgien, Moldau – gegeneinander abwägen, wie es Scholz offenkundig tut? Der Kanzler hat davon gesprochen, dass es ein Gebot der Fairness gegenüber den Westbalkan-Ländern sei, wenn es für die Ukraine keine Abkürzungen auf dem Weg in die EU gebe. Dabei schließt sich beides keineswegs aus: Die EU muss einerseits weiter dringend versuchen, die von Bulgarien ausgelöste Blockade von Verhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien zu beenden. Und zweitens muss die Gemeinschaft – wichtiger noch – beim bevorstehenden EU-Gipfel klar benennen, wie sie mit der Ukraine, Georgien und Moldau verfahren will. Vor allem die Ukraine braucht jetzt ein klares Signal aus Brüssel.

Die EU muss sich auf eine ähnliche Erweiterungsrunde einstellen wie 2014

Wer sich die Landkarte mit den zahlreichen beitrittswilligen Ländern im Süden und im Osten der heutigen EU anschaut, wird zu dem Schluss kommen, dass sich der Club der derzeit 27 Mitgliedstaaten langfristig auf eine ähnliche Entwicklung wie seinerzeit im Jahr 2004 einstellen muss. Damals traten im Zuge der Osterweiterung gleich zehn neue Staaten bei.

Im Jahr 2004 traten osteuropäische Länder wie Polen der EU bei.
Im Jahr 2004 traten osteuropäische Länder wie Polen der EU bei.

© Wojtek Radwanski/AFP

Zur historischen Rückblende gehört auch, dass die EU seinerzeit nicht für die große Beitrittsrunde gerüstet war. Fünf weitere Jahre vergingen damals, bevor eine Reform in Kraft trat, die dem Wachstum des Clubs Rechnung trug. Die Logik ist dabei einfach: Je mehr Mitglieder es gibt, umso geringer müssen die Veto-Möglichkeiten sein. Deshalb wurde mit dem EU-Vertrag von Lissabon unter anderem das Einstimmigkeitsprinzip in innenpolitisch relevanten Fragen wie der EU-Asylpolitik aufgehoben. Dies führte während der Flüchtlingskrise von 2015 dazu, dass Ungarn und Tschechien überstimmt werden konnten.

Diesmal müssen innere Reformen schneller abgeschlossen werden als 2004

Mit ihren bestehenden Entscheidungsmechanismen hat die EU nun der Aggression Putins in der Ukraine erstaunlich gut standgehalten. Sechs Sanktionspakete wurden inzwischen beschlossen, teils nach zähen Debatten. Die Sanktionspolitik gehört aber zu den Bereichen, in denen Länder wie Ungarn ihre Vetomacht nach Belieben ausnutzen können.

Abschaffung des Vetos in Sanktionsfragen muss gelingen

Das Beispiel Ungarns zeigt, dass der innere Reformdruck in der EU nach wie vor groß ist. Eine Abschaffung des Vetos auch in Fragen der Sanktionspolitik ist daher unausweichlich. Die Gemeinschaft muss solche Reformen aber diesmal beschließen, bevor neue Mitglieder vom Westbalkan oder die Ukraine irgendwann der EU angehören. Den Fehler von 2004, als sie unvorbereitet in die Erweiterung stolperten, sollten die Europäer nicht wiederholen. Es müssen sich also beide anstrengen: Die Staaten innerhalb der Gemeinschaft, die ihre Entscheidungsregeln neu erfinden müssen – und alle, die draußen vor der Tür warten.

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