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Bischof Stäblein

© dpa

Wenn den Osterboten ihre Großspurigkeit vergeht: Kein Auferstehungsfrohsinn in Pandemiezeiten

Auch Jesus ist erstickt. Der Gekreuzigte kennt das Sterben der Corona-Infizierten also in besonderer Weise. Über Ostern in bedrückender Corona-Zeit. Ein Essay.

Christian Stäblein ist seit November 2019 der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

Bei Beethoven, dessen 250. Geburtstag wir ja in diesem Jahr erinnern, gibt es eine interessante Eigentümlichkeit: Wir kennen seinen Geburtstag nicht ganz genau, aber seinen Tauftag. Wie übrigens auch bei William Shakespeare, dessen Taufdatum in den April fällt. Shakespeare ist uns derzeit ziemlich nahe: „to be or not to be“ ist die allgegenwärtige Frage geworden. Oder in der Diktion unserer Zeit: Es geht um Leben und Tod.

In der Tat: Wann war das Sterben das letzte Mal so öffentlich präsent, wann haben wir das letzte Mal so intensiv über Mortalitätsraten, Morbidität, Multi-Co-Morbidität und anderes geredet. Wir haben die Bilder der am Corona-Virus Erkrankten vor Augen, die Bilder von den Intensivstationen, mit Intubation und Schläuchen. Das Bangen und das Hoffen. Es geht um Leben und Tod – und nicht irgendwo fern, in nächster Nähe geht es darum.

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Und darum, dass wir genau das eben nicht in der Hand haben, bei allen umfassenden, segensreichen medizinischen und technischen Möglichkeiten, die wir heute haben: Leben und Sterben haben wir nicht in der Hand. Die Pandemie führt uns das vor Augen: unsere Verletzlichkeit, unsere Verwundbarkeit, ja auch unsere Hilflosigkeit.

Unseren Geburtstag kennen wir in der Regel, unseren Sterbetag können und wollen wir nicht wissen. Nur unseren Tauftag – ich komme darauf noch zurück.

In dieser Woche liegen die höchsten Feiertage des christlichen Glaubens: Karfreitag und Ostern. Das passt, mag man denken. Es geht um Leben und Tod, an diesen Feiertagen besonders. Leicht zugespitzt ließe sich das so formulieren: Weihnachten geht es darum, wie Gott in einem Kind in diese Welt kommt und sie so verwandelt, es geht im wahrsten Sinne um „Gott und die Welt“.

Wo ist die frohe Osterkunde angesichts der Corona-Toten?

Karfreitag geht es ums Sterben. Die Heimeligkeit des Weihnachtsfestes fehlt der Karwoche und den Ostertagen seit jeher. Sie führen eher nach Draußen, zu den Fragen nach Vergänglichkeit und Erlösung. Karfreitag ist die Zeit, in der wir die Gräbern besuchen, Ostern machen wir einen Spaziergang in die neu auflebende Natur. Es geht um Sterben und Weiterleben, neu leben. Wenn wir so wollen, ist das das Entscheidende am Osterfest: Gott dreht die Reihenfolge um. Es geht nicht mehr um Leben und Sterben, es geht um Sterben und Leben. Gott geht mit durch das Sterben in einen neuen Anfang, durch den Tod ins neue Leben.

Das Herausfordernde der Osterbotschaft ist dabei ihre Ungreifbarkeit und damit auch Unglaublichkeit. Wo ist das, was ich hier sage, auf den Intensivstationen zu sehen, inmitten der Betten mit Corona-Patienten, im Pflegeheim, in dem das Virus grassiert? Das Risiko für die Osterboten ist deshalb stets, dass sie zu vollmundig und großspurig daher kommen, über die Köpfe hinweg, aus einer Sonderwelt des Glaubens – und dort auch bleiben.

Dieses Jahr dürfte dieses Risiko geringer sein, nicht so sehr, weil die Spaziergänge nicht allzu extensiv sein sollen, sondern weil uns, weil mir die Vollmundigkeit von vornherein im Halse stecken bleibt. Viel zu gegenwärtig ist die Realität des Todes, die Sprache der Fakten und der Zahlen, vor denen man verstummen möchte. Verstummen: Das ist die harte Realität des Karfreitags.

Auch Jesus ist erstickt

Der Tod am Kreuz ist ein Erstickungstod, am Ende zerbricht es die Kehle. Die Worte bleiben im Nichts. Als der, von dem die Anhänger sagen, dass er Gottes Wort ist, als dieser stirbt, erstickt er, und kein Wort ist mehr da. Der Gekreuzigte kennt das Sterben der Corona-Infizierten also in besonderer Weise.

Das andere Risiko der Osterbotschaft allerdings ist umso gegenwärtiger: Wir kommen nicht bis Ostern, wir bleiben Karfreitag stecken. Der Stein vor dem Grab erscheint dieses Jahr zu groß, der Stein der Zahlen und Fakten, der Ängste und Sorgen, der Realität. Und Ostern? Ein kleiner, Spaziergang, mit Beethoven oder Shakespeare, und vorher in die Kirche? Das geht jetzt doch alles gar nicht – ausgerechnet dieses Jahr geht das nicht: zur Kirche gehen.

Die Gottesdienste vor Ort in den Kirchen fallen aus. Das ist ein Unding, sagen manche und fragen sich: wieso eigentlich? Sind Kirchen wie Museen, Kinos oder Theater – schönster Teil der Kultur, aber mit ihr dann auch zu? Oder sind sie nicht eher zu vergleichen mit Supermärkten, in denen es die Mittel zum Leben gibt? Ist nicht gerade Religion elementares Lebensmittel? Müsste nicht also dieses Forum – dem Parlament ähnlich – offen bleiben? Groß genug um Abstand zu wahren sind die Kirchenräume doch, möchte man denken. Und nicht das noch einer meint, es gäbe wirklich alles beim Baumarkt. Manches gibt es da nun wirklich nicht: Hoffnung zum Beispiel.

Im Krieg waren Kirchen Schutzräume, jetzt sind sie Risikoorte

Nicht mal im Krieg waren die Kirchen zu, höre ich dieser Tage bisweilen und stutze dann, denn dieser Vergleich hinkt nicht bloß, er ist schon in sich eine Stolperschnur. Waren im Krieg die dicken Mauern der Kirche bester Schutz, so können sie jetzt eben schnell der Ort ungewollte Infektionen werden. Wer verantwortlich Kirche lebt, will gerade nicht, dass der Gottesdienst zum Ansteckungsrisiko wird. Aber klar ist auch, dass es mit ein bisschen Abstand zu diesen ersten Pandemiewochen, mit ein wenig Abstand in der Kirche, wieder Gottesdienste geben wird. Ich hoffe darauf, denn kaum etwas vermisse ich so wie die gemeinsamen Gottesdienste in der Kirche, die trösten und stärken, in denen es um das Leben geht, das stärker ist als der Tod.

Wenn die Gottesdienste nicht in den Kirchen stattfinden, wird eines umso deutlicher: Das Evangelium lebt nicht davon, dass es unter einem bestimmten Dach geortet oder gar gehortet wird, es lebt davon, dass wir es weitersagen, dass es geteilt und mitgeteilt wird – auf welchen Kanälen auch immer. Evangelium ist – ursprünglich, vom griechischen Wortlaut her – gute Nachricht, eu angellion. Nachricht, existent im Modus der Mitteilung, im besten Sinne durch und durch medial, existent im Zwischenraum: Evangelium wird jetzt noch einmal verstärkt verkündet über Telefon, Twitter und Youtube, über Funk, Fernsehen und Facebook. All das sind Gottesdienste. Sie fallen nicht aus, sie sind auch nicht abgesagt. Wann ist das letzte Mal so medial, so öffentlich präsent gebetet worden?

Gottesdienst ist nicht auf einen Ort beschränkt. Und sowieso nicht auf die Zeit sonntagmorgens zwischen zehn und elf Uhr. Gottesdienst ist, wo am Krankenbett ausgeharrt, ein Lied gesungen, erzählt wird. Gottesdienst meint nicht, dass wir, dass die Menschen Gott dienen. Gottesdienst meint, dass Gott den Menschen dient. Durch uns dient er jenen, die uns brauchen. Sollte man also so zuspitzen: so viel Gottesdienst wie dieses Ostern war schon lange nicht mehr? Ich hoffe das.

Die Krise als Chance? Das ist mir zu instrumentell gedacht

Dreht er jetzt alles um: Lebensordnung, Gottesdienstvorstellung – was kommt als nächstes? Nein, vieles wird so bleiben wie es ist. Wir spüren ja gerade, was uns alles fehlt und worauf wir uns nach der Krise wieder freuen. Von Theater bis Fußball, von Familienfeier bis Gottesdienst.

Und doch stellt sich ja gerade in der Krise die Frage nach der Umkehr. Schon zu Beginn der Pandemietage wurde ein Loblied auf Umkehr und Verzicht gesungen. Wie wir anders leben werden nach der Krise, wie viel dankbarer, wie viel gelassener, wie viel reifer.

Ich gebe zu: So sehr das zu wünschen wäre, das Verhältnis zur Krise wäre mir damit zu instrumentell beschrieben. Zunächst einmal wird die Welt ärmer sein, ärmer um die Menschen, die jetzt sterben und die ohne das Virus nicht gestorben wären. Das möchte ich gerne gegenüber allen festhalten, die die Krise zur Chance ausrufen, noch bevor sie überhaupt durchgestanden ist.

Umkehr, wenn es sich denn um Umkehr im tieferen Sinne handeln soll, meint nicht einfach Wunsch und Wille zu einem anderen, besseren oder schöneren Leben. Umkehr – theologischen, im christlichen Sinne – heißt: sich das Herz wenden lassen, sich die Augen öffnen lassen für das, was im Anfang stand. Was könnte das sein?

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Ich bin überzeugt: Als erstes der Atem. Damit beginnt das Leben. Und also als erstes eine Haltung, die uns allen Luft lässt, die Luft in die Gesellschaft und ins System lässt – in der Terminenge und Kalkulationsenge und Atemlosigkeit nicht das letzte Wort suchen. Das würde mir schon reichen, das wäre doch was, das wäre Umkehr, das wäre wie – ja, wie Taufe in der Osternacht. Sich das Herz wenden lassen.

In der christlichen Tradition wurde gerne in der Osternacht getauft. Weil da die Schicksalmelodie Beethovens, weil da die Grundfrage aus Hamlets Shakespeare so eindeutig und ein für alle Mal entschieden wird: Sterben – und leben. Vom Dunkel ins Licht gehen. Gottes Atem darin spüren.

Bischof Christian Stäblein

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