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Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD), stellt seinen Jahresbericht vor.

© imago/Christian Thiel

Wehrbeauftragter Hans-Peter Bartels: „Niemand plant eine Zwei-Prozent-Bundeswehr“

Für den Wehrbeauftragten Bartels ist das Zwei-Prozent-Ziel beim Wehretat nur „Pokern in Tarifverhandlungen“. Im Interview spricht er über Frust in der Truppe.

Ein Ministerwechsel nach sechs Jahren bietet die Chance zur Neuorientierung. Was sind die drängendsten Probleme der Bundeswehr?

Frau Kramp-Karrenbauer ist die siebte Verteidigungsministerin in meiner Zeit im Bundestag. Ich wünsche ihr Glück. Die Lage hat sich in den letzten Jahren einschneidend verändert, vor allem seit 2014 mit der russischen Annexion der Krim. Deutschland braucht jetzt nicht nur Streitkräfte für Einsätze außerhalb des Nato-Gebiets auf dem Balkan, in Afrika und Afghanistan, sondern auch wieder für die Verteidigung des Bündnisgebiets in der vollen Breite. Es geht dabei nicht um die Rückkehr zum Kalten Krieg. Alle Nato-Staaten haben heute in ganz Europa zusammen weniger Soldaten, als damals allein in der westdeutschen Bundesrepublik standen. Aber die Fähigkeit Deutschlands zur Teilnahme an der kollektiven Verteidigung muss erst wieder hergestellt werden. Das ist die drängendste Aufgabe.

Ist das ein Richtungswechsel gegenüber der Amtszeit von der Leyen?

Nein. Das ist die von ihr eingeschlagene Richtung. Die finde ich richtig. Die nötigen Trendwende-Beschlüsse sind da, und im Bundestag gibt es einen breiten Konsens, die Bundeswehr für die heutige Doppelaufgabe, die kollektive Verteidigung und die Auslandseinsätze, vollständig auszustatten. Das wollen die beiden Regierungsfraktionen und auch mindestens zwei Oppositionsfraktionen…

… die Liberalen und die Grünen.

Ja, das hat zum Beispiel Robert Habeck gerade noch einmal betont. Dieser Konsens ist gut. Viele Abgeordnete wissen, dass mehr Geld für die Bundeswehr nötig ist. Die begonnenen Trendwenden müssen jetzt aber auch möglichst bald für die Soldatinnen und Soldaten spürbar werden. Daran hakt es. Die Umsetzung ist auf zu viele Jahre verteilt. Es gibt so etwas wie ein Zwölf-Jahres-Programm bis 2031. Es wäre schön, wenn wichtige Verbesserungen schneller kämen und nicht erst im zwölften Jahr. Vieles dauert viel zu lange.

Soll Frau Kramp-Karrenbauer den Einsatz externer Berater fortsetzen?

Grundsätzlich kann externe Beratung nützlich sein, gerade wenn man Strukturen verändern will. In den letzten Jahren gab es aber vielleicht zu viele Berater. Besser wäre, man kann die Dinge selbst. Für freie Dienstposten sollte das Ministerium möglichst eigene qualifizierte Leute gewinnen.

Welche Probleme lassen sich mit Sofortmaßnahmen in den ersten 90 Tagen beheben?

Sofort und ohne Geld könnte man die innere Struktur verbessern. Was wir heute erleben, nenne ich Verantwortungsdiffusion. Zu viele Stellen müssen bei Entscheidungen einbezogen werden, schon auf unterster Ebene. Das lähmt und frustriert. Und das ist keine Frage des Haushalts, sondern der extremen Zentralisierung aus den Zeiten des Schrumpfens und Sparens. Da muss jetzt Entscheidungskompetenz und Ressourcenverantwortung wieder eindeutig der Truppe zugewiesen werden: für Personal, Instandsetzung, auch Infrastruktur. Überspitzt gesagt, wenn ein Bataillonskommandeur tausend Euro ausgeben möchte für irgendeine Kleinigkeit für seinen Verband, sollten sich nicht zehn erwachsene Leute in fünf unterschiedlichen Behörden damit beschäftigen, ob er das darf. Wer sich so organisiert, hat immer zu wenig Personal. So wird Arbeitskraft verbrannt und Mangel produziert.

Was muss die Bundeswehr ganz praktisch können, was sie heute noch nicht kann?

Vorweg, die Bundeswehr kann viel. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind im internationalen Vergleich sehr gut. In manchen Bereichen sind sie Ausbildungsweltmeister. Aber der Truppe fehlen zu oft die Mittel. Wir brauchen die Vollausstattung. Alles, was ein Panzer- oder ein Logistikbataillon, eine fliegende Staffel oder eine Marineeinheit auf dem Papier benötigt, muss auch tatsächlich in den Hallen, den Munitionsdepots, auf den Übungsplätzen und auf den Schiffen vorhanden sein. Nur dann ist die Einheit voll einsatzfähig. Heute gibt es Bereiche, wo wir auf dem Papier 70 Prozent Materialausstattung haben und in der Realität 15 Prozent. Es müssen 100 Prozent sein.

Aktuell steht Deutschland vor der Frage, ob es sich an einem europäischen Marineeinsatz im Persischen Golf beteiligt, um Handelsschiffen Geleitschutz zu geben. Abgesehen vom politischen Willen: Wäre die Bundeswehr dazu fähig?

Das wäre immer eine Frage der Prioritäten. Unsere Marine hat im Moment viel zu wenige Schiffe. Planmäßig müsste es 15 Fregatten geben, in der Realität existieren neun. Wenn die Bundesregierung zum Beispiel aus bündnispolitischen Gründen teilnehmen wollte, könnte sie das. Dafür müsste die Bundeswehr vielleicht ein Schiff oder mehrere aus anderen Einsätzen oder Nato-Flottenverbänden abziehen. Wenn Deutschland dann aber an einem Bündniseinsatz teilnimmt, wollen unsere Soldaten die gleichen Risiken tragen wie die Verbündeten, sie wollen keinen Sonderweg.

Zu den Bündnisaufgaben gehört die atomare Abschreckung. Deutschland ist daran beteiligt und dabei auf die Tornados angewiesen. Doch diese Flugzeuge entfallen demnächst.

Eigentlich sollte die Auswahlentscheidung 2018 fallen. Nun soll das bis Ende 2019 geschehen. Es wird Zeit. Würde sich Deutschland aus technischen Gründen aus der nuklearen Teilhabe abmelden, geriete das transatlantische Bündnis in arge Glaubwürdigkeits-Turbulenzen.

Frau Kramp-Karrenbauer hat als erstes das Zwei-Prozent-Ziel der Nato bekräftigt. Wie bewerten Sie das?

Das wirkt wie Pokern in Tarifverhandlungen. Sie fordert tapfer mehr, damit am Ende genau die 1,5 Prozent, auf die man sich eigentlich in der Koalition schon geeinigt hat, auch wirklich herauskommen. Das heißt, knapp drei Milliarden Euro Etatsteigerung jährlich bis 2024. Dann ist man bei 58 Milliarden, was sehr viel Geld ist. Niemand plant eine Zwei-Prozent- Bundeswehr. Das wären 77 Milliarden Euro im Jahr 2024, illusorisch! Die Bundeswehr plant mit 1,5 Prozent. Würde die Bundesregierung sich jetzt auf zwei Prozent festlegen, gäbe es keinerlei Pläne, wie man das Geld ausgeben wollte. Wie groß sollte die Bundeswehr dann werden? Welche ganz anderen Fähigkeiten sollte sie erwerben? Und die Industrie könnte auch nicht so schnell liefern, weil sie ihre Kapazitäten in den mageren Jahren ebenfalls abgebaut hat.

Was fehlt am dringendsten?

Es fehlt überall: im Heer, in der Luftwaffe, in der Marine.

Sie sagen, die Industrie könnte gar nicht so schnell liefern, selbst wenn das Geld rasch fließt. Wie lange dauert es, dieses System aus Bestellung durch die Politik und Lieferung durch die Industrie wieder hochzufahren auf die aktuellen Bedürfnisse?

Wir sind gegenwärtig leider besonders gut darin, uns Zeit zu lassen. Laut Plan sollen drei Divisionen des Heers und vier Task Forces der Luftwaffe bis 2031 voll ausgerüstet sein. Es wäre gut, wenn manches schneller ginge. Fangen wir doch an mit der persönlichen Ausstattung der 180000 Soldatinnen und Soldaten: von der Kampfbekleidung über Schutzwesten, Rucksack und die richtigen Waffen bis zu Nachtsichtgeräten. Das müsste die größte Volkswirtschaft Europas wohl hinkriegen. In den 1980er Jahren hat die alte Bundesrepublik 1,3 Millionen Soldaten für den Mobilisierungsfall ausgerüstet. Das ging damals. Das heutige Auf-die- lange-Bank-Schieben ärgert die Soldatinnen und Soldaten.

Wie schnell ginge das heute?

Vielleicht zwei bis drei Jahre. Wenn man will, findet man in einer freien Marktwirtschaft ja wohl Firmen, die zügig zum Beispiel die neue Bekleidung herstellen und liefern. Da muss ja nichts mehr neu erfunden werden.

Sie sind seit vier Jahren Wehrbeauftragter. Was ist die prägendste Erfahrung?

Von Anfang an war die erste Klage der Soldaten: Uns fehlt die Ausrüstung. Das zweite Hauptproblem ist die Verantwortungsdiffusion, über die wir bereits sprachen. Das könnte Frau Kramp-Karrenbauer ziemlich schnell ändern. Frau von der Leyen hatte ja noch ein Projekt „Innere Führung heute“ angestoßen. Die Ergebnisse liegen vor. Sie sind zwar nicht veröffentlicht, aber die Ministerin kann da nachlesen, was sie wissen muss.

Ist das Verständnis gewachsen, warum Deutschland Soldaten braucht und gut ausrüsten muss? Oder verbreitet sich eine Stimmung, dass Deutschland keine Feinde habe und Militär nachrangig sei?

In Politik und Gesellschaft wächst das Bewusstsein, dass die Bedrohungen wachsen. Umfragen ergeben: Die Mehrheit unserer Mitbürger will eine Bundeswehr, die funktioniert. Dafür darf es ruhig etwas mehr Geld geben. Die Truppe darf auch ein bisschen größer sein als heute. Verteidigung ist den Bürgern nicht egal. Wir haben in Deutschland freilich nicht dieselbe Bereitschaft zum Militäreinsatz wie es sie in angelsächsischen Ländern gibt. Geschichte prägt, auf beiden Seiten. Die Deutschen sind zurückhaltender. Sie denken, dass man Streitkräfte in erster Linie braucht, um abzuschrecken und Konflikte zu verhindern und nur im Ausnahmefall zur Intervention.

Insofern startet Frau Kramp-Karrenbauer in einem verständnisvolleren Klima als Frau von der Leyen vor sechs Jahren?

Ja. Außerdem war Ende 2013 vom Vorrang der Bündnisverteidigung noch keine Rede. Erst 2014 bekamen wir eine neue Lage. Mit der Annexion der Krim ist, wie der Historiker Heinrich-August Winkler sagt, die Epoche der Friedensdividende, die auf den Kalten Krieg folgte, zu Ende gegangen. Das war für die damals neue Verteidigungsministerin eine Riesenherausforderung. Und eine Riesenchance. Es ging nicht mehr darum, die Bundeswehr weiter zu verkleinern. Sie musste umsteuern. Ich würde mir übrigens wünschen, dass der Bundestag einmal im Jahr grundsätzlich darüber debattiert, wie die Lage unserer Verteidigung im Bündnis aussieht, statt immer nur einzelne Entscheidungen zu Auslandseinsätzen im Plenum zu beraten. Wir brauchen so eine regelmäßige Generaldebatte über den Zustand der Bundeswehr – und dann gerne auch alle vier Jahre ein Weißbuch der Bundesregierung.

Die Bundeswehr hat Probleme mit dem Nachwuchs. Woran liegt das?

Am Anfang der Personalmisere steht die Aussetzung der Wehrpflicht. Als sie verkündet wurde, hatte man ja noch das umgekehrte Problem: zu viele Soldaten. Man gab ihnen Geld, damit sie früher ausschieden. Heute konkurriert die Bundeswehr auf dem Arbeitsmarkt mit der Wirtschaft und mit den anderen Sicherheitsbehörden wie Polizei, Zoll, Nachrichtendiensten. Alle wachsen. Und sie bieten alle unbefristete Verträge an. Die Bundeswehr gibt Soldaten dagegen erstmal immer nur Zeitverträge. Der Bundeswehrverband sagt, der Status Zeitsoldat sei ein „negatives Alleinstellungsmerkmal“ der Bundeswehr. Natürlich braucht die Truppe Wechsel, Erneuerung, Verjüngung durch einen bestimmten Anteil von Zeitsoldaten, aber für die muss es dann auch attraktiv sein.

Was muss sich da ändern?

Man könnte zum Beispiel geeigneten Zeitsoldaten anbieten, dass sie danach als Zivilbeschäftigte der Bundeswehr übernommen werden. Heute geht das noch nicht. Eine Teilpension beim Ausscheiden nach zum Beispiel 15 Dienstjahren wäre eine andere Möglichkeit.

Welche Rolle spielt die Chemie zwischen Ministerin und Truppe: das Gefühl, dass sie Empathie für die Soldaten mitbringt?

Eine große Rolle. Das Verteidigungsministerium ist ein exekutiver Sonderfall. Alle anderen Ministerien bereiten Gesetze vor, die dann der Bundestag beschließt. Das Verteidigungsministerium hat kaum mit Gesetzgebung zu tun. Es ist in erster Linie ein Führungsapparat für 260000 Menschen, den größten Personalkörper des Bundes. Die Ministerin muss sich auf diese Menschen einlassen wollen. Und spüren, was es bedeutet, Soldat zu sein.

Ist Kramp-Karrenbauer die Richtige?

Es gibt keine geborenen Verteidigungsminister. Man wächst hinein.

Ist es ein Vorteil für die Bundeswehr, wenn eine Parteivorsitzende das Ministerium führt, also ein politisches Schwergewicht?

Der Vorteil ist: Sie bringt zusätzliches Kampfgewicht mit. Von Nachteil könnte sein, dass sie ihre Energie zwischen zwei Hauptaufgaben teilen muss. Wir werden sehen.

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