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Der Vizechef der EU-Kommission, Frans Timmermans, am Mittwoch in Brüssel.

© imago/ZUMA Press

Update

Wegen Justizreform: EU-Kommission leitet Sanktionsverfahren gegen Polen ein

Erstmals in der Geschichte greift die Kommission auf Artikel 7 zurück: Wegen der Justizreform sieht sie europäische Grundwerte gefährdet.

Als der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, am Mittwoch die Entscheidung der Brüsseler Behörde im Rechtsstaats-Streit mit Polen bekanntgab, wurde er sehr grundsätzlich. „Dies ist ein Thema, das nicht nur für das polnische Volk von großer Tragweite ist, sondern auch für die EU als Ganzes“, sagte der Niederländer.

Zuvor hatte die Kommission den Beschluss zur Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 der EU-Verfassung gefasst, das theoretisch zum Entzug des EU-Stimmrechts für Polen führen könnte. Zur Begründung für den Schritt sagte Timmermans, dass die nationalkonservative Regierung in Warschau in den vergangenen beiden Jahren insgesamt 13 Gesetze verabschiedet habe, die „eine ernsthafte Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz“ darstellten. Es ist das erste Mal in der EU-Geschichte, dass ein Artikel-7-Verfahren eingeleitet wird.

Timmermans spricht von Schutz "gegen nackte politische Gewalt"

Wegen der Beschränkung der Justiz in Polen verfolgt die EU-Kommission seit Januar 2016 ein Rechtsstaatsverfahren, das bislang allerdings nicht zu einem Einlenken der nationalkonservativen Regierung geführt hat. Wenn das Verfahren nicht ernst genommen werde, nehme die EU insgesamt Schaden, sagte Timmermans. „Am Ende bietet uns nur das Recht einen Schutz gegen nackte politische Gewalt“, erklärte er.

Treffen mit Polens Regierungschef Morawiecki geplant

Wie Timmermans weiter ausführte, gehe es nicht darum, der polnischen Regierung das Recht streitig zu machen, eine Justizreform in die Wege zu leiten, wie dies auch in anderen Ländern geschehe. Allerdings müssten dabei auch das polnische Verfassungsrecht sowie das EU-Recht beachtet werden, fügte er hinzu. Gleichzeitig erklärte Timmermans, dass die EU-Kommission zum Dialog mit der polnischen Regierung bereit sei. Wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf Twitter mitteilte, ist Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki am 9. Januar zu einem Gespräch nach Brüssel eingeladen. An dem Treffen soll auch Timmermans teilnehmen.

Am Mittwoch sah es nicht danach aus, dass die polnische Regierung demnächst die Bedenken der EU-Kommission ausräumt. Kurz nach der Beantragung eines Strafverfahrens durch die EU-Kommission sind zwei weitere umstrittene Justizreformen in Kraft getreten. Staatspräsident Andrzej Duda unterzeichnete am Mittwoch nach eigenen Angaben zwei Reformen, die das Oberste Gericht und den Nationalen Justizrat betreffen.

Umstrittene Neuordnung des Obersten Gerichtshofs

Bei dem Streit zwischen der nationalkonservativen Regierung und der Kommission geht es unter anderem um zwei Gesetze, die in diesem Monat im Sejm und anschließend auch im Senat in Warschau verabschiedet wurden. In den Gesetzen werden die Neuordnung des Obersten Gerichtshof und des Landesjustizrates geregelt, der für die Ernennung der meisten Richter im Land verantwortlich ist.

Im vergangenen Juli hatte Präsident Andrzej Duda zunächst sein Veto gegen die beiden Gesetze eingelegt, die nach der Auffassung der EU-Kommission den Rechtsstaat in Polen beschneiden. Anschließend hatte Duda im September eigene Entwürfe für die beiden Gesetze vorgelegt. Allerdings stießen auch die Gegenvorschläge des Präsidenten auf Kritik von Rechtsexperten: Die so genannte Venedig-Kommission, die den Europarat in juristischen Fragen berät, prangerte unter anderem die Sonderstellung einer außerordentlichen Kammer im Obersten Gerichtshof an, die bei möglichen Streitigkeiten zum Wahlrecht das letzte Wort hätte.

„Das ist beunruhigend“, sagte Thomas Markert, der Leiter des Sekretariats der Venedig-Kommission des Europarates, dem Tagesspiegel. Nach seinen Worten ist die geplante Neuregelung insofern von Bedeutung, als Polens Parlament jüngst eine Reform des Wahlrechts beschlossen hat. Nach der Auffassung der Opposition profitiert vor allem die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ von der Reform.

Die Neuregelung des Landesjustizrats steht in der Kritik der EU-Kommission, weil künftig das Parlament ein erhebliches Mitspracherecht bei der Besetzung des Gremiums haben soll. Im kommenden Jahr ist eine umfassende Neubesetzung des Landesjustizrats geplant.

Deutschland und Frankreich unterstützen die Kommission

Nachdem die EU-Kommission das Artikel-7-Verfahren eingeleitet hat, muss zunächst das Europaparlament zustimmen. Anschließend müssen mindestens 22 der 27 EU-Staaten per Beschluss feststellen, dass eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ von europäischen Grundrechten vorliegt. Polen bleibt in dem Verfahren außen vor. Timmermans sagte, dass es unter den EU-Mitgliedstaaten in der Vergangenheit eine „sehr breite Unterstützung“ für die Haltung der Kommission gegeben habe. Beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche hatten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron bereits den Rückhalt ihrer Länder für die EU-Kommission deutlich gemacht.

Verlust der EU-Stimmrechte gilt als unwahrscheinlich

In dem mehrstufigen Verfahren erfordert ein weiterer Beschluss, der tatsächlich zu einem Verlust des EU-Stimmrechts Polens führen würde, die Einstimmigkeit aller übrigen 27 europäischen Mitgliedstaaten. Da Ungarns Regierungschef Viktor Orban bereits angekündigt hat, gegen eine solche Entscheidung sein Veto einzulegen, gilt ein Entzug der Stimmrechte als wenig wahrscheinlich.

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