zum Hauptinhalt
1964

© ullstein bild

Politik: Was wird hier gespielt?

Ein Jahrhundertspiel, das heute keine Firma mehr verlegen würde, weil es zu simpel ist. Eine Spielemesse, auf der kaum noch Kinder sind – weil alles so kompliziert ist. Mensch, wundere dich mal.

Wie Sandkörner im Hals einer Eieruhr schieben sich die Menschen durch die engen Gänge. Sie tragen Rucksäcke oder schleppen ausgebeulte Plastiktüten. Manche zerren beladene Bollerwagen hinter sich her, die unter ihrer Last eiern und entgegenkommenden Besuchern gegen die Schienbeine rammen. Mitten in diesem Gewühl steht Wolfgang Kramer und nimmt fast routiniert die Begeisterung eines Fans entgegen. Kramer lächelt freundlich, während der Verehrer gestikulierend und in der stickigen Luft schwitzend die stimmungsvolle Ehrung vom Vorabend lobt. Wie schön das gewesen sei – und wie überfällig. Dann verabschiedet der Fan sich und verschwindet im Gewühl, aber nicht ohne Kramers Frau zuvor die Hand geküsst zu haben.

Die stimmungsvolle Ehrung vom Vorabend, das war die Verleihung des Deutschen Spielepreises. Kramer erhielt ihn bei der diesjährigen weltgrößten Messe für Gesellschaftsspiele, der „Spiel“ in Essen, zum fünften Mal. Aber diesmal in der Sonderkategorie „Lebenswerk“.

Wolfgang Kramer ist Schwabe, gelernter Betriebswirt und Informatiker, inzwischen 70 Jahre alt und trägt einen sauber gestutzten grauen Kinnbart. Er war der erste Deutsche, der hauptberuflich Spieleerfinder – korrekter: Spieleautor – wurde. 1988 kündigte er seinen Job in einem Logistikzentrum und machte seine Leidenschaft zum Beruf. Seither hat er mehr als 200 Spiele veröffentlicht, von denen insgesamt mehr als zehn Millionen Exemplare verkauft wurden. Die Essener Messe „Spiel“ kennt er seit ihrer Premiere vor 30 Jahren, da war er auch schon dabei. Und nach den vielen Jahren in der Branche kann er heute vor allem eins feststellen: dass sie sich verändert hat. „Früher haben die Menschen das Spiel überwiegend als Kinderspiel betrachtet, es wurde hauptsächlich in der Familie gespielt“, sagt Kramer. „Erwachsenenspiele gab es fast gar keine. Es wurde eher gesagt: Erwachsene spielen nicht, Erwachsene arbeiten.“

Das ist heute anders, und das sieht Kramer nicht nur, wenn er sich auf der Messe umschaut. Obwohl die in den Herbstferien stattfindet, sieht er nur wenige Kinder. 70 Prozent der Messebesucher, das schätzen die Veranstalter, seien Erwachsene oder Jugendliche ab 16 Jahren. Autark handelnde Personen also, die mit Gleichaltrigen und -gesinnten spielen. Und die Kinder? Hämmern auf den Knöpfen ihrer Videokonsolen herum. Damit geht nicht nur den Spieleverlegern eine Zielgruppe verloren, wie Kramer formuliert. Es geht um mehr.

Ein ganzes Jahrhundert lang hat fast jedes deutsche Kind wegen „Mensch ärgere Dich nicht“ dramatische Ungerechtigkeiten ertragen müssen, Ohnmachtsgefühle erlebt, aber auch große Schadenfreude. Mit der richtigen Würfelzahl durfte man gewissenlos rausschmeißen und gemein sein, Weichheit wurde verschrien. Millionen Menschen lernten verlieren – oder auch nicht –, sie verfluchten Eltern und Geschwister, fegten Spielfiguren durchs Wohnzimmer. Das simple Brettspiel war so auch ein Baustein der Charakterbildung. Der Berliner Hersteller Schmidt Spiele schätzt, dass er das Spiel bisher mehr als 90 Millionen verkauft hat. Es ist der Jahrhundertrenner.

Ausgelöst wurde der 1914 von Josef Schmidt, dem Gründer von Schmidt Spiele. Der hatte die Idee, 3000 Spiele als Zeitvertreib für die verwundeten Soldaten an Lazarette an den Fronten zu verschenken. Als die Soldaten heimkehrten, brachten sie das Spiel mit. So wurde es bekannt und Schmidt zum Preis von 35 Pfennig bald darauf aus den Händen gerissen. 1920 waren aus den 3000 Gratis-Exemplaren eine Million verkaufte Spiele geworden. Im Gegensatz zum Schach, dem Spiel der Könige, schloss „Mensch ärgere Dich nicht“ niemanden aus. Das Spiel begeisterte die Menschen durch seine Einfachheit: würfeln, ziehen, am Ende heil zu Hause ankommen. In diesem schlichten Prinzip fanden sich nicht nur verwundete Soldaten wieder.

Heute dominieren in den Kinderzimmern Computer- und Videospiele, in denen ferne Galaxien auf Erkundung warten. Diese Konkurrenz kann auch die Kreativität von Wolfgang Kramer nicht aufhalten, der nach 30 Jahren im Geschäft immer noch Spiele erfindet, meist arbeitet er an zehn Entwürfen gleichzeitig. Trotzdem ist er sich sicher, dass sein Beruf und seine Passion nicht aussterben werden. Er verweist auf die 5000 Jahre alte Tradition der Brettspiele und schlussfolgert: „Wenn etwas so lange überlebt hat, dann hat es auch eine Zukunft.“ Und wenn Kramer über das einfache Geheimnis spricht, das seine geliebten Spiele trotz der technischen Konkurrenz im Kinderzimmer am Leben hält, lässt ihn ein spitzbübisches Grinsen beinahe jugendlich wirken. „Es macht einen Unterschied aus, ob ich meinem Gegenüber eine Karte mit großer Geste auf den Tisch knalle und ihn danach triumphierend anlächeln kann“, sagt Kramer – oder ob ein Computer piept. „Der Computer leidet nicht, wenn er verliert. Und er freut sich nicht, wenn er gewinnt.“ Damit falle ja der Hauptreiz am Spiel weg.

Doch ist es heutzutage für Kinder nicht mehr selbstverständlich, einen Spielgefährten aus Fleisch und Blut und mit Zeit zu haben. Die Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern stellt nicht mehr die Regel dar. Spiele mit der Altersempfehlung „von 9 bis 99 Jahren“ gibt es zwar immer noch, generationenübergreifend gespielt wird aber nur selten. Eher gehen Familien gemeinsam ins Kino. Beim Traditionsverlag Ravensburger aus Ravensburg hat man sich deshalb schon an einer reinen Zwei-Personen-Produktlinie versucht, um gezielt Alleinerziehende anzusprechen. Allerdings mit geringem Erfolg.

Lothar Hemme, der seit fast 30 Jahren Redakteur bei Ravensburger ist, zerbricht sich deswegen aber auch nicht mehr den Kopf als Autor Kramer. Er hat beobachtet, dass das Spiel zwischen jungen Erwachsenen in den vergangenen 20 Jahren ganz stark zugenommen habe. Anders als ein Kind schäme sich ein Jugendlicher schnell, wenn es um Emotionen geht. Das ändere sich, wenn man nach der Schule in eine andere Stadt zieht, ein Studium aufnimmt, neue Leute trifft. „Man kann Menschen im Spiel sehr viel besser kennenlernen, als wenn man nur zusammen in die Disko geht oder in der Kneipe sitzt“, sagt Hemme. „Wer kann verlieren? Wer gibt sich auch mal eine Blöße? Wer kann sich zum Affen machen? Das sind interessante Fragen für junge Erwachsene.“ Dafür greifen sie zum Spiel.

Für einige von ihnen ist Spielen mehr als nur ein gelegentlicher Zeitvertreib. Sie sind zu denen geworden, die Experten wie Hemme die „Vielspieler“ nennen. Im Gegensatz zum „Normalspieler“. Vielspieler, führt Hemme aus, seien im Spielebereich das, was im Bereich Klassische Musik die Stockhausen-Fans sind. Menschen, die das anstrengungslos Konsumierbare hinter sich gelassen haben.

Im Unternehmen Ravensburger, das mit Puzzles und Spielen fast 250 Millionen Euro jährlich umsetzt, will man beide Spielertypen bedienen, quasi Beethoven bis Bohlen liefern. Ein simples Spiel wie „Mensch ärgere Dich nicht“ allerdings wäre heute nicht mal mehr Bohlen. Das würde der Verlag heute nicht mehr herausbringen. „Spielbrett, Pöppel drauf, Würfel daneben – mit so einem Teil können Sie heute nicht mehr in einen Fernsehspot hineingehen“, sagt Hemme. Zwar sei die emotionale Qualität des Spiels – die Schadenfreude, das Ärgern, die Angst vorm Rausfliegen – immer noch vorhanden, aber um Erfolg zu haben und eine größere Aufmerksamkeit zu erzeugen, müsste das Spiel in Hemmes Worten „vom Material und von der Optik her gepimpt werden“. Da bräuchte es nicht nur ein paar Ereigniskarten, da müssten ganz andere Dimensionen her. Es scheint, dass eine Welt, die immer komplexer wird, auch immer komplexere Spiele benötigt.

Ein Großteil jener rund 800 Spiele, die auf der Spielemesse in Essen jedes Jahr neu vorgestellt werden, ist mittlerweile so komplex, dass der normale Verbraucher sie als zu schwierig empfindet – „zumindest wenn niemand am Tisch sitzt, der die Regeln bereits kennt und erklären kann“, wie Hemme sagt. Das mit der Komplexität hat 1995 begonnen. Damals brachte der Mischverlag Kosmos die „Siedler von Catan“ auf den Markt. Deren Entwickler glaubten, sie würden ein Spiel für eine kleine Gemeinde von Strategiefans herausbringen. Doch stattdessen wurde ihre Erfindung ein Verkaufsschlager, und sie veränderte den gesamten Spielemarkt dramatisch. Plötzlich waren anspruchsvolle Strategiespiele gefragt, bei denen es darum geht, Länder, Königreiche oder Handelsimperien aufzubauen, zu handeln und zu erobern, stundenlang und nach hochkomplexen Regeln. Während Normalspieler angesichts von 20-seitigen Anleitungen und Spieldauern bis vier Stunden dankend abwinkten, entstand – erst in Deutschland, dann weltweit – eine Fangemeinde. Der Begriff „German Board Games“ wird international als Synonym für anspruchsvolle Gesellschaftsspiele verwendet.

Essen ist das Hochamt der Vielspieler, hierhin pilgern Experten und Freaks, um sich mit den Neuerscheinungen einzudecken, die nur auf der Messe oder vielleicht später noch im Internet greifbar sind, aber nie im Regal eines Spielwarengeschäfts ankommen werden. Mit „Mensch ärgere Dich nicht“ haben diese Spiele nichts mehr gemein, genauso wie die Interessen der jungen Männer in den Messehallen mit ihren Rucksäcken, Plastiktüten und schwankenden Bollerwagen nichts mehr mit denen der Soldaten in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs gemein haben.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass in den Spielwaren-Abteilungen der Kaufhäuser im aktuellen Weihnachtsgeschäft wieder häufig nach „Mensch ärgere Dich nicht“ gefragt wird. Im Berliner KaDeWe haben Kunden die Auswahl zwischen mehreren edlen Retro-Varianten des Spiels zum Preis von knapp 20 Euro, zum Beispiel der „exklusiven Replik“ oder der „Classic Line“. Benito Gumz findet das nicht so gut. Er findet vielmehr, dass es bessere Spiele als „Mensch ärgere Dich nicht“ gäbe – zu denen er „Monopoly“ allerdings ausdrücklich nicht zählt. Der 39-Jährige ist ein leidenschaftlicher Spielefan und gehört zum bundesweiten Spieleclub „Ali Baba“. Wenn er über seine private Sammlung spricht, geht es nicht um Stückzahlen, sondern um Kubikmeter. Vor kurzem habe er ungefähr 15 Kubikmeter Spiele in einen angemieteten Lagerraum ausquartiert, um ein bisschen Platz in seiner Wohnung zu schaffen. Ob er 1500 oder 2000 Spiele besitzt, kann er nicht sagen. „Wenn du mich aber nach einem bestimmten Spiel fragst, kann ich schon sagen, ob ich es habe und wie es funktioniert“, sagt Gumz.

In den sechs Wochen rund um Weihnachten arbeitet er – nahezu logische Konsequenz aus so viel Sachverstand – im KaDeWe als Verkäufer, Berater und Erklärer. Und natürlich war er auch bei der Messe in Essen, wie jedes Jahr. Zwei Tage lang hat er sich für „Ali Baba“ mit Verlagen getroffen. Zwei Tage lang hat er eingekauft. „Ich kann nicht sagen, wie viele Spiele ich mitgebracht habe“, sagt er. „Unser Kombi war jedenfalls voll.“ Gespielt hat er kein einziges Mal.

Jeden Mittwoch organisiert Gumz einen Spieltreff in einem Kreuzberger Familienzentrum, meist kommen 40 bis 50 Leute. An den Wänden hängen Fotos von Krabbelgruppen, durch den Raum sind Schnüre gespannt, an denen Kinderzeichnungen baumeln. An den Tischen sitzen aber Erwachsene, Männer und Frauen, zwischen 20 und 60 Jahren. Es wird viel gelacht, die Umgangsformen sind höflich, an Schummeleien oder Wutausbrüche kann sich Benito Gumz nicht erinnern. Er selbst kommt auch an diesen Abenden kaum noch zum Spielen, er muss Regeln erklären, Spiele empfehlen und für die Verpflegung der Spieler sorgen. Es gibt selbst gebackenen Kuchen und Brötchen mit hart gekochtem Ei, eine Spielerin verteilt großzügig mitgebrachte Mohrrüben-Spalten in der Runde. Bei den Kreuzberger Treffen werden viele komplizierte Spiele ausprobiert, unterbrochen von leichteren Karten- oder Würfelspielen. „Nach einem Vier-Stunden-Kracher, bei dem man sich die ganze Zeit konzentriert hat, muss man erst einmal runterkommen und abschalten“, sagt Gumz. Inzwischen ist es also so weit, dass man spielen muss, um sich vom Spielen zu erholen. Wenn man es denn erst einmal geschafft hat, sich durch die nötigen Vorbereitungen zu kämpfen und anzufangen.

An einem Messestand in Essen brüteten vier junge Männer über einem gerade ausgepackten Spiel. Es ging um rivalisierende Ameisenstämme, das konnte man erkennen. Alles andere war unklar. Muss man Punkte sammeln? Bündnisse schmieden? Wie gewinnt man überhaupt? In der Mitte des Tisches lag ein Hauptspielfeld, jeder der vier Männer hatte zudem ein eigenes Nebenspielfeld mit Diagrammen vor sich. Dazu kamen Haufen farbiger Pappkärtchen, rechteckig, sechseckig, nochvielmehreckig. Auch Holzklötzchen und Holztürmchen verschiedener Größe wurden benötigt, vor jedem Spieler waren zudem mehrere bunte Plastikspinnen aufgereiht, nicht größer als ein Daumennagel. Die Verpackung listete insgesamt 411 Teile auf. Die Männer lasen und grübelten – und hatten auch nach einer Dreiviertelstunde noch immer nicht angefangen zu spielen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false