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Damit es auch keiner vergisst: Ein großes Hinweisschild erinnerte am 8. März 2016 die Schweizer daran, das sein Bundesreferendum stattfindet.

© dpa

Was werden die Leute sagen?: Referenden sind gut - aber sie sind auch Arbeit

Für die Kultur des Referendums bedarf es permanenter, engagierter, gut informierter Partizipation. Die Wähler müssten für diese besondere Verantwortung geschult werden. Zu bald gäbe es sonst Todesstrafe und Massenabschiebungen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Abstimmungen sind die Essenz der Demokratie. Ja, das wollen wir; nein, das wollen wir nicht – auf die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger kommt es an, die turnusmäßig mit den Wahlperioden abgegeben werden. Die da oben? Sind unsere Abgesandten, Repräsentanten, Delegierten, Botschafter, Dienstleister. Ein „da unten“ kann es in dem System an sich gar nicht geben. Wir, die Wählenden, stehen ja über denen „da oben“, wir sind das „ganz oben“. Ohne uns steigt kein Volksvertreter empor.

Direkter noch kann das Votum der Bevölkerung durch ein Referendum eingeholt werden, wenn es um konkrete Fragen geht: Soll ein Tunnel durchs Gebirge gebohrt, ein Flussufer oder eine freie Fläche, wie das Tempelhofer Feld in Berlin, bebaut werden? Die Schweiz, geübt in Referenden, hatte dieses Jahr schon drei Abstimmungstage zu zwölf Themen. Ende November geht es dort um den Ausstieg aus der Atomkraft.

Zwei aktuelle Resultate von Volksabstimmungen haben gerade für Aufruhr gesorgt. Kolumbiens Bevölkerung sabotiert mit ihrem Votum einen mühsam ausgehandelten Plan der Regierung, Frieden mit den Farc-Rebellen zu schließen, die 200 000 Tote zu verantworten haben. Wütende Bürger stimmten gegen den „zu milden“ Plan. Ungarns Viktor Orbán befragte das Volk zur Aufnahme von Geflüchteten. Und obwohl die Beteiligung von 40 Prozent nicht ausreichte, behandelt er deren zu 98 Prozent negatives Votum als Bestätigung seiner Nein-Politik.

Erst reden, dann entscheiden, so hielten es schon die alten Griechen

Am radikalsten ist zurzeit der Vorschlag des Belgiers David Van Reybrouck in seinem Buch „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“. Er empfiehlt eine Art Volkslotterie als Ersatz für die Demokratie, von der die Bürger müde, passiv und misstrauisch geworden seien. Wie aus Schöffen zusammengestellte Gruppen sollen sich durch das Befragen von Experten in Themen einarbeiten: Eine Schwarmintelligenz soll das Sagen haben. Am ehesten käme dem vielleicht Heiner Geißlers Runder Tisch zu „Stuttgart 21“ nahe. Aber geht das jedes Mal, wenn Rohre verlegt, eine Schule gebaut oder ein Intendant gefunden werden sollen? Und wie bald gäbe es Todesstrafe, Massenabschiebungen oder Rufe wie „Boykottiert die“ und „Kreuziget ihn!“ – wo das Ressentiment stärker ist als die Ratio, wo Demagogen gegen Nüchternheit die Stimmung steuern? Eine Ahnung davon bekam man in diesen Tagen.

Was werden die Leute sagen? Das ist die Schlüsselfrage der Demokratie, deren Name im antiken Griechenland erfunden wurde: „Demos“ heißt „Bevölkerung“, „kratein“ heißt „herrschen“. Zwischen etwa 500 bis 300 vor Christus besaß Athen ein präzedenzloses System der Bürgerbeteiligung samt Versammlungen und Abstimmungen. Teils wurden Bürger vom Staat für den Verdienstausfall entschädigt, wenn sie für den demokratischen Prozess von der Arbeit freigestellt waren. Dem griechischen Politiker Perikles nach gehört Beteiligung zum Atmen der Demokratie, und dazu müssten Bürger Kenntnis und Debatte suchen, denn „wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet.“

Ohne Informiertheit birgt direkte Demokratie enorme Risiken

Was er damit sagte, beschreibt das Alpha und das Omega der direkten Demokratie. Für die Kultur des Referendums bedarf es permanenter, engagierter, gut informierter Partizipation. Die Schweizer erhalten für so gut wie jeden Volksentscheid Papiere vom Volumen ganzer Bücher, die sie studieren können, sollten. Informiertes Sprechen, Abstimmen, Wählen erfordert ein Engagement, das sich gerade den virulenten Stimmungen, dem bipolaren Agieren widersetzen kann. Den Boden für Argumente bildet die Informiertheit, das soziale Training im Aushalten von Debatten. Gelernt werden muss das von klein auf, und dafür kann nur das Bildungssystem die Voraussetzungen schaffen. Früh muss gelernt und geübt werden, wie man in einer Schulklasse, einer Gruppe, gemeinsam Beschlüsse fasst, wie man anderen zuhört, Lösungen abwägt, die Folgen von Entscheidungen voraussieht und Resultate akzeptiert.

Mehr direkte Demokratie – ja, ein wunderbarer Gedanke. Aber solange den relevanten Schulstoffen und Sozialtechniken im Bildungssystem, in Fächern wie Politik und Ethik, nicht großräumig Platz eingeräumt wird, birgt direkte Demokratie enorme Risiken. Und auch, solange das Internet ein rechtsfreier Raum voller bodenloser Gerüchte ist. Solange bleiben die Gesellschaft gefährdende Ergebnisse von Abstimmungen möglich, die Einzelinteressen dienen oder Ressentiments bedienen.

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