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Julian Reichelt hat seine Machtposition in der Redaktion ausgenutzt.

© picture alliance / Bernd von Jut

Was uns der Fall Julian Reichelt sagt: Erst wenn es weh tut, klappt es mit der Ethik

Gendersternchen kosten nichts - ändern aber die Machtverhältnisse auch nicht. Dafür braucht es oft andere Druckmittel. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Angefangen hat es mit den Skandalen an Internaten und anderen Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten: Hunderte, Tausende von Fällen drangen ans Licht, in denen sich pädagogisches Personal an Minderjährigen vergriffen hatte. Nach und nach änderte sich manches an der Praxis im Alltag.

2010 gilt als das Jahr der Aufklärung im Kinder- und Jugendschutz. Ein Kulturwandel bahnte sich an. Seither gilt vielerorts etwa das Sechsaugenprinzip: Nie soll sich eine Schülerin, ein Schüler allein mit einem Erwachsenen in einem Zimmer aufhalten. Bei Gesprächen sollten Türen offenbleiben, Transparenz im Wortsinn wurde geschaffen.

Ein Internatsleiter in Süddeutschland hält stets ein übergroßes, langärmliges T-Shirt parat. Leichtbekleidete Schülerinnen bittet er, das Hemd während der Unterredung mit ihm überzuziehen.

Auch bei "Me too" liegen meist asymetrische Machtverhältnisse vor

Wenige Jahre darauf eroberte der Hashtag „#MeToo“ die Öffentlichkeit. Er entstand 2017, als in den USA mehr und mehr Frauen aus Film- und Showbusiness von sexueller Belästigung und Erpressung durch mächtige, männliche Personen berichteten. „Me too“ („ich auch“) wurde auch in Deutschland zu einem Leitmotiv auf Twitter. Unzählige, vor allem Frauen, berichteten von sexuellen Anspielungen, sexualisiertem Verhalten am Arbeitsplatz bis hin zu handfester Gewalt. Fast überall lagen asymmetrische Verhältnisse vor: Chef und Sekretärin, Regisseur und Schauspielerin, Abteilungsleiter und Praktikantin, Professorin und Student, Redakteur und Volontärin.

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In einer dritten Woge des Aufstands wider Asymmetrien erhob der Chor der Diversität seine Stimme, und klagte auf mehr Sichtbarkeit und Partizipation von migrantischen und sexuell marginalisierten Menschen, und generell solchen mit „Markierungserfahrungen“.

Bittere Debatten kreisten um Signale symbolischer Inklusion, wie Gendersternchen oder geschlechtsneutrale Sprachregelungen. Allenthalben sprießen Workshops zur Sensibilisierung von Belegschaften und entstehen Leitfäden für korrektes Sozialverhalten.

Symbole, die nichts kosten, ändern auch wenig

Doch Seminare, symbolische Veränderungen und sprachliche Setzungen machen noch nicht unbedingt einen gesellschaftlichen Sommer. Ins Licht mischt sich viel Zwielicht.

Drastisch belegt das der Fall der Bild-Zeitung, die ohnehin nicht als moralische Impulsgeberin gilt. Immerhin hatte auch sie angesichts manifester „#Me-too“-Vorwürfe gegen ihren Star, den jungen Julian Reichelt, „kulturelle Erneuerung“ versprochen. Doch wackere Worte sind das eine, Taten das andere. So war der machttrunkene Mann, der Frauen befördert hatte, die ihm zu Willen waren, lediglich in eine kurze Auszeit geschickt worden.

Dass Reichelt nun dennoch seinen Posten als Bild-Chef verliert, und seine steile Karriere an einer Klippe bremst, liegt allein an einem Enthüllungsartikel der „New York Times“ zur Doppelmoral des Springer-Flaggschiffs. Seinen guten Ruf in den USA zu verlieren, kann der Springer-Konzern, der eben 1,6 Milliarden Dollar in US-Medien investiert hat, sich schlicht nicht leisten. Die Summe ist so hoch, dass sie nachholenden Anstand erzwang.

Zur Kursänderung kommt es, wie so oft, erst durch die bedrohte Reputation, den gefürchteten Aufstand oder den noch mehr gefürchteten finanziellen Verlust. Kurz ist die Reichweite symbolischer Funksignale, die nichts oder wenig kosten. Lang dagegen ist der Weg von der habituellen Doppelmoral zur Ethik.

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