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Ein vom israelischen Verteidigungsministerium zur Verfügung gestelltes Foto zeigt eine "Arrow-3"-Abfangrakete.

© dpa

Was Militärexperten raten, wovor sie warnen: Die Tücken des Kanzler-Projekts „Raketenschild für Deutschland“

Der Kanzler macht deutlich, warum er den Kauf eines Raketenabfangsystems für Deutschland prüft. Doch es ist kein Allheilmittel.

Stück für Stück umreißt Olaf Scholz, was die von ihm ausgerufene „Zeitenwende“ auch militärisch konkret bedeutet. Der Kanzler bei „Anne Will“, das ist ein für seinen Kurs werbender Auftritt. Kühle Sachlichkeit, selbstbewusst, er deutet an, dass er das Unheil mit Putin schon lange kommen sah. Das stößt sich etwas mit der Regierungspolitik der Vorjahre, als auch Scholz schon in Mitverantwortung war, sowohl in Sachen Landesverteidigung als auch bei der Energieabhängigkeit von Russland.

Er ist bemüht, bloß keine Zweifel und Führungsschwäche erkennen zu lassen, sondern Wladimir Putin mit Stärke zu antworten. In dieser Analogie stellt sich der Kanzler auch die Spitze der Bewegung, wenn es nun um einen Raketenschild gegen Mittelstreckenraketen für Deutschland geht. Doch bei der möglichen Ausgestaltung warnen Verteidigungsexperten vor einem entscheidenden Fehler - und einem Problem, dass das diskutierte Arrow-3-System nicht lösen kann.

Ist der Kauf schon beschlossene Sache?

Nein. Am Mittwoch hatte Scholz nach Tagesspiegel-Informationen mit Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) und Generalinspekteur Eberhard Zorn über diese Kaufoption diskutiert. „Das gehört ganz sicher zu den Dingen, die wir beraten, aus gutem Grund“, sagte Scholz in der ARD-Sendung „Anne Will“ auf die Frage, ob ein Schutzschirm gegen Raketenangriffe wie in Israel gespannt werden soll.

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Warum Scholz solch ein Projekt seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine nicht mehr für Science Fiction hält, legt er sehr eindringlich dar.  „Wir müssen uns alle darauf vorbereiten, dass wir einen Nachbarn haben, der gegenwärtig bereit ist, Gewalt anzuwenden, um seine Interessen durchzusetzen. Deswegen müssen wir uns gemeinsam so stark machen, dass das unterbleibt.“

Der russische Präsident Wladimir Putin hadere mit einem der Grundsätze der europäischen Friedenspolitik, „nämlich, dass Grenzen in Europa nicht mehr verschoben werden dürfen.“ Putin aber finde, das weite Teile bestimmter Staaten eigentlich zu Russland gehören. „Wer in Geschichtsbüchern blättere und sich Grenzen von früher anschaut, und daraus Konsequenzen für die Gegenwart ableitet, der stürzt Europa in ewige Kriege.“ Er sieht bei Putin die Rückkehr des Imperialismus – daher will er auch eine robuste Antwort darauf.

Warum ist das israelische System im Blick?

Konkret wird intern die Anschaffung des israelischen Systems „Arrow 3“ erwogen, im Zusammenspiel mit Radargeräten, die so leistungsstark sind, dass sie über große Distanzen Raketenabschüsse registrieren können. Die dann abgeschossenen Abfangraketen sind in der Lage, zum Beispiel Mittelstreckenraketen sehr hoch über der Erde zu zerstören, bis in die Stratosphäre hinein. Dazu ist die Bundeswehr bisher nicht in der Lage.

So könnten dort russische Iskander-Raketen, die zum Beispiel von der Exklave Kaliningrad abgeschossen werden, in der Erdatmosphäre zerstört werden. Das System wurde von Israeli Aerospace Industries in Kooperation mit dem US-Flugzeugbauer Boeing entwickelt. „Deutschland nutzt bislang das Patriot-System der USA als bodengestütztes Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System zur Abwehr von Flugzeugen, Marschflugkörpern und taktischen ballistischen Mittelstreckenraketen“, betont der CDU-Verteidigungsexperte und Oberst a.D. der Bundeswehr, Roderich Kiesewetter auf Tagesspiegel-Anfrage, dass dieses System nicht zur Bekämpfung, etwa von ballistischen Interkontinentalraketen in deren mittleren Flugphase, reicht.

Mehr zum Ukraine-Krieg bei Tagesspiegel Plus:

Man müsse nun verstärkt mit solchen Bedrohungsszenarien „für uns und insbesondere osteuropäische Staaten rechnen“, ist sich Kieswetter da mit dem Kanzler einig. Das diskutierte Arrow 3 wäre eine Ergänzung im Bereich der Fähigkeiten der bodengebundenen Luftverteidigung, betont Kiesewetter.

Geplant ist, dass eine mögliche Anschaffung, von mehreren Milliarden Euro ist die Rede, über das in der Planung befindliche 100 Milliarden Euro umfassende Sondervermögen für die Bundeswehr finanziert werden könnte.

Da es dafür eine Grundgesetzänderung und mithin eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag braucht, ist Scholz hier auf die Unterstützung der Union angewiesen. Zu den Details will sich Scholz noch nicht äußern. „Ich habe mir vorgenommen, jetzt nicht die Einzelheiten eines noch nicht zu Ende abschließend beratenen Plans hier auszuplaudern.“

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Ein Raketenschild für Deutschland? Kanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (beide SPD) prüfen das.
Ein Raketenschild für Deutschland? Kanzler Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (beide SPD) prüfen das.

© John MACDOUGALL/AFP

Wovor warnen Militärexperten?

Dass es ein rein nationaler Raketen-Schutzschild nur für Deutschland wird. Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität rät dringend dazu, es als gemeinsames Projekt zum Beispiel mit Polen, den baltischen Staaten anzugehen. „Das wäre der gute Nebeneffekt für die Polen und die baltischen Staaten. Je nachdem, wo man die Erkennungsradare stationiert, könnte man deren Luftraum noch mitabdecken“, betont er auf Tagesspiegel-Anfrage. Zudem käme es darauf an, wo man dann die Abfangbatterien aufstelle. „Das wäre genau das System, was Sinn machen würde.“

Als von Scholz solche Gedankengänge noch nicht zu hören waren, sagte der CDU-Militärexperte Kiesewetter bereits im Januar 2021 dem Portal „Europäische Sicherheit und Technik“, dass der Erfolg der NATO als Grundlage der westlichen Sicherheitsarchitektur entscheidend in ihrer Fähigkeit begründet sei, sich auch neuen Sicherheitserfordernissen anzupassen. „Am Ende werden wir Europäer Angebote für eine glaubhafte Lastenteilung machen müssen. Dafür können wir zum Beispiel anregen, stärker Verantwortung für die bodengebundene Luftverteidigung in Mittel- und Osteuropa zu übernehmen.“

Daher betont Kieswetter angesichts der aktuellen Arrow-3-Debatte: „Ein solches Schutzschild muss deshalb von Anfang an in die Nato-Luftverteidigung integriert werden. Deutschland sollte die bodengebundene Luftverteidigung für Polen, das Baltikum und die osteuropäischen Länder übernehmen.“

Wie würde das konkret funktionieren?

Die Radargeräte könnten in Deutschland stationiert werden und zusätzliche Raketen zur Verteidigung in Polen, dem Baltikum und weiteren osteuropäischen Staaten. Im nordrhein-westfälischen Uedem am Niederrhein sitzt das Zentrum Luftoperationen und auch das neue Weltraumkommando der Bundeswehr. Von hieraus könnte womöglich die Radarüberwachung gesteuert werden, bei Hinweisen auf einen gegnerischen Raketenabschuss könnten dann die in mehreren Ländern stationierten Abfangraketen zur Zerstörung der Angreiferrakete aufsteigen.

„Deutschland kann so seiner Schutzverantwortung in Europa gerecht werden. Dafür reichen die derzeitigen Luftabwehrsysteme bislang nicht aus“, betont Kieswetter. 

Das wäre zugleich ein starkes Zeichen Deutschlands für die transatlantische Lastenteilung. Arrow 3 könne dafür ein sinnvolles Rüstungsprojekt sein.

Die Ressourcen wären aber falsch eingesetzt, „wenn Deutschland jetzt Milliarden in ein rein nationales neues Raketenabwehrsystem investiert, deshalb sollte es zwingend in unsere Bündnisverteidigung integriert sein, also einen europäischen Schutzschirm bieten.“ Er formuliert hier quasi eine Bedingung der Union für eine Zustimmung.

Allerdings würde es wohl ohnehin nicht vor 2025 zur Verfügung stehen.

Der frühere Präsident des Reservistenverbandes betont, dass zudem auch dieses System ein grundsätzliches Problem nicht lösen könnte – das ist das große Dilemma. Russland setzt verstärkt Hyperschallwaffen ein – und dagegen gibt es bislang kein funktionierendes Schutzschildsystem. Auch Raketen des Typs Arrow 3 könnten gegen solche Waffen nur sehr bedingt etwas ausrichten. „Wir müssen uns immer vor Augen halten, es gibt keinen hundertprozentigen Schutz, mit keinem Raketenschutzschirm der Welt.“

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