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Sawsan Chebli (SPD).

© picture alliance/dpa

Was mich bedrückt: In Nahost fehlt die Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingen

Und was ist mit unserem Leid?, fragen Menschen in Nahost beim Blick auf die Hilfe für die Ukraine. Das ist traurig – ließe sich aber ändern. Ein Gastbeitrag.

Sawsan Chebli ist SPD-Politikerin und war von 2016 bis 2021 Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in der Berliner Senatskanzlei.

Ich fragte eine Bekannte, die in einem arabischen Land lebt: „Hast du das Bild der Familie gesehen, die von russischen Truppen ermordet wurde? Das Bild einer Mutter mit ihren Kindern, die von russischen Soldaten vergewaltigt wurden?“ Die Antwort macht mich sprachlos. „Das ist doch alles Propaganda, das ist nicht echt.“

Die Ukrainer, so erklärt sie mir im Ton tiefer Überzeugung, nutzten alte Bilder von Palästinensern, die von israelischen Soldaten getötet wurden. „Schau dir an, was die Israelis mit den Palästinensern machen, alles wird von den Amerikanern und dem Westen unterstützt!“, fügt sie hinzu. Auch das Leid der Kinder im Jemen interessiere die westliche Öffentlichkeit nicht.

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Und schließlich sehe man abermals, wie rassistisch die Europäer seien: Ukrainische Flüchtlinge bekämen alles, aber schwarze Menschen und jene, die keine blauen Augen und blonde Haare haben, müssten sich hinten anstellen. Und so ging es nonstop weiter.

Ich verstehe den Frust, aber...

Ich bin diskussionsfreudig, aber in ein derart geschlossenes Weltbild mit Argumenten vorzudringen, fällt auch mir nicht leicht. Ich verstehe den Frust über das Desinteresse der europäischen Öffentlichkeit an Krisen und Konflikten in der Welt, spreche fast täglich über Rassismus und Diskriminierung, auch im Umgang mit Geflüchteten. Aber woher kommt – selbst bei Menschen aus meinem Bekanntenkreis, die zur Bildungselite der arabischen Welt gehören – diese Abwesenheit von Empathie gegenüber dem Leid der ukrainischen Bevölkerung? Müsste nicht gerade die arabische Welt, die selbst Invasionen, Angriffskriege und Terror gegen Zivilisten so schmerzhaft erlebt hat, solidarisch sein?

Natürlich gibt es in Ländern wie Syrien, wo man die Brutalität der russischen Militärs am eigenen Leib erlebt hat, auch Solidarität. Aber ich halte die Meinung meiner Bekannten nach vielen Gesprächen, die ich mit Menschen in der arabischen Welt geführt habe, nicht für Einzelphänomene.

Hier droht Hunger durch den Wegfall von Weizenlieferungen

Das ist umso dramatischer, als große Teile der arabischen Welt und der europäischen Nachbarschaft besonders heftig von den Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine betroffen sein werden. Der gestiegene Ölpreis mag den einen Profite bringen, aber die Mehrheit der Menschen in der arabischen Welt könnte durch den Wegfall russischer und ukrainischer Weizenlieferungen von Hunger bedroht sein.

Aber noch sind anscheinend die Reflexe stärker: etwa der Antiamerikanismus in der Region. Die USA werden für alles Übel, das Menschen im Nahen Osten seit Jahrzehnten leben, verantwortlich gemacht, und mit den USA auch der Westen. Das Völkerrecht, so die weit verbreitete Ansicht, gelte nur dann, wenn es dem Westen in die politische Agenda passe. Ansonsten würden Völkerrechtsbrüche kleinlaut hingenommen oder sogar unterstützt.

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Nun scheint es mir, als empfänden Staaten und Gesellschaften in der arabischen Welt Genugtuung darüber, dem Westen in seiner Politik gegenüber Russland die Gefolgschaft zu verweigern. Europa und die USA fordern die arabische Welt zur Unterstützung gegen Russland auf. Und diese zieht sich auf die Position des vermeintlich Gemäßigten zurück – man müsse „beide Seiten“ verstehen. In der arabischen Welt sehen viele Menschen keinen Unterschied zwischen dem Angriff Russlands auf das ukrainische Volk, dem man im Kreml eine eigene Existenz abspricht, und der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern.

Dass dazu noch ein mehr oder weniger offen ausgesprochener Antisemitismus kommt – Präsident Wolodymyr Selenskij hat jüdische Vorfahren – und manche hinter der Solidarität mit der Ukraine und ukrainischen Flüchtlingen wieder einmal eine jüdische Verschwörung sehen, sollte auch nicht unerwähnt bleiben. Dass sogar Überlebende des Holocaust nun durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine gestorben sind, ist in arabischen Medien meinem Eindruck nach auch kein Thema.

Wir sollten nicht in parallelen Universen leben

Die Unfähigkeit, über Grenzen hinaus Empathie zu empfinden, bedrückt mich. Ich befasse mich seit vielen Jahren mit der Region und denke, dass man dieses Problem ernst nehmen sollte. Die südliche Nachbarschaft ist gerade in diesen Zeiten zu wichtig, als dass wir es uns leisten könnten, in parallelen Universen zu leben. Das Beispiel Russland und die dort verbreiteten Narrative über den Krieg zeigen uns täglich, wohin diese emotionale Entkopplung führt.

Hinzu kommt, dass Russland die arabische Nachbarschaft Europas als ein „weiches Ziel“ der Propaganda ausgemacht hat, wo man mit Desinformation unter Einsatz geringer Mittel starke Wirkung erzielen kann. Die Befassung mit der öffentlichen Meinung, Klischees und Vorurteilen ist mühsam und frustrierend.

Unser Außenpolitik muss sich an die Gesellschaften richten

Vor allem aber zeigt mir das Beispiel, dass unsere Außenpolitik sich viel stärker an die Gesellschaften in der Nachbarschaft Europas richten muss, als das bisher der Fall ist. Wir müssen klar und deutlich kommunizieren, was unsere politischen Ziele sind; wir dürfen uns Diskussionen nicht verweigern. Der Westen hat Präsidenten in die Macht gebracht und nach Belieben gestürzt. Wir sind rein und wenn’s opportun war, sind wir wieder raus. Armut, Hunger, Not, Elend, Krieg, Entrechtung, all das ist da, es interessiert uns zu wenig. Man glaubt uns, Europa und dem gerade wieder erstarkenden Westen nicht, wenn wir von Werten sprechen.

Es ist an der Zeit eine Politik zu vollziehen, die den Menschen und nicht den staatlichen Apparat in den Blick nimmt. Die arabischen Führungen werden ohnehin nach ihren Interessen handeln. Aber bei der Gesellschaft können wir Empathie erreichen – oder verlieren. Und Empathie ist letztendlich die Grundlage dafür, dass man sich überhaupt verständigt.

Sawsan Chebli

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