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Der männliche Gefühlsstau ist keine Universalerklärung für alles Elend der Welt.

© Carsten Bachmeyer - Fotolia

Was ist ein echter Mann?: Lasst uns heulen!

Emotional werden wollen, es aber nicht können: ein klassisches Männerdrama. Was wir gewinnen, wenn wir es lernen.

Vor den Toren der Stadt, in unserer Reihenhaussiedlung am Bahndamm, war die Welt klar geregelt. Ein echter Mann ernährte die Familie allein. Wer seine Frau arbeiten schicken musste, der hatte das Leben nicht im Griff. War ja genug zu tun: Einkaufen ohne Auto, Waschen ohne Maschine, jeden Mittag kochen. Die Männer waren auch geschäftig. Nach der Arbeit wurde repariert oder Pferdemist im Kleingarten verteilt, um den Ertrag zu maximieren. Die Väter hatten den Krieg erlebt, sprachen aber allenfalls in gespenstischen Andeutungen darüber. Bei Siegen der deutschen Fußballer war die Freude verhalten. Alles Nationale war vergiftet. Die Gedanken an früher wurden fleißig weggerackert. Geredet wurde vorwiegend über die nächsten Anschaffungen, den kommenden Urlaub und was noch alles zu erledigen sei. Verbissen leistete der Mann, um sich und seiner Familie was leisten zu können. Konsum kompensierte. Wut und Scham? Angst vorm Versagen? Die Einsamkeit des Alltagshelden? Blieben fest verschlossen im Giftmüllfass, tief unten im Seelenkeller. Damit hatte ein Mann allein klarzukommen. Wie geht’s? Muss ja.

Mein Vater starb, als ich gerade 15 geworden war, mitten hinein in meine hyperpubertäre Abgrenzungs- und Provokationsphase. Selbst als ich ihn wenige Stunden vor seinem Tod im Krankenhaus besuchte, haben wir unsere Gefühle tapfer niedergekämpft. Wir wollten emotional werden, aber wir konnten nicht. Ein klassisches Männerdrama. In der Hauptrolle: unsere Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen, zu reden, Schwäche zuzugeben, Hilflosigkeit, Traurigkeit. Ein letzter Händedruck. Dünne Tränen beim Rausgehen. Leise tönten die gelernten Glaubenssätze: Jungs weinen nicht. Stell’ dich nicht so an. „Sich anstellen“, das gehörte sich nicht. Wer sich anstellte, der wollte was Besonderes sein, der brauchte eine Extrawurst, der verzögerte den Betriebsablauf. Geht gar nicht – wir sind eine Eisenbahnerfamilie.

Männer reden nicht, weil sie es nie gelernt haben. Der Psychologe Björn Süfke, der maskuline Sprachlosigkeit nahezu täglich in seiner Bielefelder Praxis erlebt, erklärt das Schweigen mit dem „Gesetz der traditionellen Männlichkeit“. Weil Männer sich nicht erlauben zu versagen, dürfen sie auch nicht über Fehler, Schwächen, Ängste reden; so haben sie’s zu Hause gelernt, im Kino, beim Sport. Aber wer nicht redet, erhöht das Risiko von Krankheit, Sucht oder zwanghafter Kompensation. Die einen saufen, manche werden depressiv, andere rennen Marathon. Dreimal häufiger als Frauen begehen Männer Selbstmord. Wieder andere mühen sich, das innere Rumoren mit demonstrativer Übermacht zu verjagen, die oft ins Irrationale spielt.

Nur mal ein Gedankenexperiment: Könnte es sein, dass krampfhaft unterdrückte Gefühle und Bedürfnisse und problematisches männliches Verhalten auf verschiedensten Ebenen zusammenspielen? Donald Trump, der von seinem Vater auf das Siegen um jeden Preis getrimmt wurde? Wladimir Putin, dessen Motive der Yale-Professor Timothy Snyder aus einem archaischen Männlichkeitsbild und einer übermächtigen Homophobie heraus erklärt? Die weltweit dokumentierten Übergriffe in der katholischen Kirche? Die Wut ostdeutscher Männer, die seit der Wende nicht nur Arbeit, sondern Stolz und Würde verloren? IS, Hooligans, rechte Schläger? Werden da nicht überall Kränkung, Verklemmung, Versagensangst mit Machtmissbrauch oder Aggression kompensiert?

Nein, der männliche Gefühlsstau ist keine Universalerklärung für alles Elend der Welt. Aber ein Blick darauf lohnt, schon um der Söhne willen. Viele Männer stecken fest in einem Gestrüpp aus Glaubenssätzen und Evolution, aus Religion und gelernten Machtsystemen und Beleidigtsein. Wir wünschen uns Ordnung, aber Chaos und Widersprüche regieren. Viele Männer spüren, dass die alten Rollenbilder unwiederbringlich dahin sind wie Diesel-Autos und Kohlekraftwerke. Aber wie sieht der neue Antrieb aus?

Es gibt kein Entkommen. Wir haben scheinbar Selbstverständlichstes zu hinterfragen, gelassen und mit Mitgefühl, idealerweise auch von weiblicher Seite. Das ist nicht einfach: Auf einem Musikfestival in Brandenburg erlebte ich bei einer Diskussion unter dem Motto „Was bleibt von #MeToo“ einen jungen Mann, Schreinerlehrling, der ebenso mutig wie unsicher bekannte, dass er in Elternhaus, Schule und Lehre viele Stereotypen aufgeschnappt habe, aber in Wirklichkeit ziemlich wenig wisse vom richtigen Umgang miteinander, und nun einfach mal fragen wollte, ob ihm nicht ein paar Frauen erklären könnten, was erlaubt sei und was warum übergriffig. Wow, welch ein Mut. Und welch ein Sturm, der plötzlich losbrach: Er habe ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank, wetterte ein Frauenchor, nach 5000 Jahren Patriarchat sollten sie den Unterdrückern jetzt auch noch aus der Patsche helfen? Ja, das wäre schön, dachte ich. Der Schreinerlehrling schwieg beschämt.

1982 forderte Ina Deter „neue Männer“ für das Land, aber das war auch schon Unsinn. „Neu erfinden“ ist eine der gewaltigsten Lügen des 21. Jahrhunderts. Nein, neue Männer gibt es nicht. Wir werden mit den alten klarkommen müssen. Bevor wir uns also erfolglos umerziehen, sollten wir zunächst ein Miteinander versuchen, das auf Verständnis beruht. Und das beginnt mit einem klaren Wort. Wir müssen reden, nicht über-, sondern miteinander. Jeder Mann für sich, über seine Erwartungen, Träume, Verletzungen, Macken. Wir Männer müssen zugleich miteinander reden, über unseren Helden- und Rivalitätsfimmel, ohne Konfrontationsreflexe, offen, ehrlich, verständnisvoll. Nur im Gespräch können wir die Schützengräben zuschütten, aus denen in Jahrzehnten Verletzte krabbeln, ohne dass wir große kulturelle Fortschritte gemacht hätten.

Frauen haben in den letzten 50 Jahren dank des Feminismus die Chance gehabt, über sich zu sprechen, zu reflektieren, sie haben Neuland erkundet, ihre Schmerzen, ihre Wünsche. Sie haben sich viel umarmt. Gut so. Wir Männer standen oft mit verschränkten Armen daneben, haben an das nächste Champions-League-Spiel gedacht und spöttisch bis ängstlich beteuert, dass wir so was nicht brauchen. Vielleicht doch: Reden hilft, sogar Männern. Zuhören hilft ebenfalls, auch Frauen.

Denn es gibt viele Männer, die mehr als okay sind, bewusst, aufmerksam, empathisch, und die sehr gern wüssten, wie es gemeinsam weitergeht. Zugleich bestehen immense Informationslücken beiderseits, die weder Mario Barth noch wüstes Männer-Bashing schließen können. Bitte keine weitere Abhandlung über die Krise des Mannes – das ist so weit bekannt. Nase voll von Komödiantinnen, die Späße über notgeile Vollhirnis machen. Ich mag auch nicht schon wieder beteuern müssen, wie sehr ich Übergriffe von Männern verabscheue, dass ich natürlich für Equal Pay bin, aber auch dafür, dass meine Söhne in ihrem jungen Mannsein nicht nur diskreditiert werden.

Was wir zu lernen haben, ganz gleich welcher Generation: Welche Glaubenssätze haben wir aus der Kindheit mitgebracht? Welche Bürden haben Religion und Kultur auferlegt? Welches Menschenbild wohnt wirklich in uns? Wie kann eine Sexualität jenseits jener leistungsorientierten Start-Ziel-Logik aussehen, die Heranwachsende auf Pornoportalen lernen? Ist doch nicht normal, dass sich schon Minderjährige Viagra auf dem Schwarzmarkt besorgen, aus lauter Furcht, beim ersten Mal zu scheitern. Oder: Wie gehen wir um mit geflüchteten Jungen, deren Männer- und Frauenbild unermesslich schief hängt? Hymne lernen, Bundesländer auswendig können? Wir brauchen erfahrene Männer, die den Heranwachsenden offen und deutlich sagen, was Sache ist.

Lange haben sich Kunst und Wissenschaft mit Identitäten beschäftigt. Seit Facebook mehr als 60 Geschlechtervarianten anbietet und das Bundesverfassungsgericht 2017 ein drittes Geschlecht als Grundrecht definiert, ist es womöglich an der Zeit, neben den Besonderheiten auch das Feld der Gemeinsamkeiten wieder in den Blick zu nehmen.

Es geht nicht um Mann gegen Frau gegen alle anderen Spielarten, sondern gemeinsam gegen das Toxische, das gegen alle scharfrichtert, die anders ticken. Vielleicht bin ich heillos romantisch, aber: Ich wünsche mir ein Gender-Camp-David, einen Friedensschluss derer, die die offene gegen eine repressive Welt verteidigen.

Unmöglich? Aber nein. Vor zehntausend Jahren war der nomadische Mensch schon mal weiter. Bevor wir sesshaft wurden und sich das Patriarchat in Militär, Religion, Politik, Wirtschaft, Kultur verfestigte, war Gleichstellung eine Überlebensnotwendigkeit. Die Aufgaben waren nicht nach Geschlechtern verteilt, sondern nach Fähigkeiten. Zur Nomadenzeit waren Frauen den Männern auch körperlich ähnlicher. Die Oberarme waren deutlich muskulöser als heute, angeblich sogar kräftiger als die der Ruderer vom Cambridge-Achter. Nomaden haben vielfältige Gesellschaftsorganisationen hervorgebracht, aber weder Matriarchat noch Patriarchat. Die kleinen Gruppen waren fast immer akephal organisiert, also herrschaftslos, egalitär, gleichberechtigt. Ein „schwaches“ Geschlecht hätte die Entbehrungen jener Tage gar nicht überlebt. Erst mit der Sesshaftigkeit änderten sich zunächst die Machtverhältnisse, dann die Aufgaben und schließlich die Körper. Bis dahin war die Evolution womöglich eine brillante Gleichstellungsbeauftragte.

Die digitale Moderne bringt nun die Züge eines neuen Nomadentums hervor, ein Wachstumsschritt, der womöglich aus dem Geschlechterkrieg zu einem neuen, alten Miteinander führt. Für unsere Kinder verlieren Sicherheit und Eigentum an Wert. Viel wird geteilt. Die Arbeit verliert ihren Stellenwert als dominierendes Identifikationsmerkmal. Der Nachwuchs glaubt nicht mehr an Lebenszeitjobs und linearen Aufstieg. Wir Babyboomer gingen davon aus, dass das Schlimmste hinter uns lag und wir kontinuierlich bessergestellt sein würden. Unsere Kinder wiederum dürfen mit einer raueren Zukunft rechnen.

Die digitalen Nomaden der Zukunft werden vielleicht der Arbeit hinterherziehen. Wetter und eine liberale Gesellschaft sind wichtiger als ein Bausparvertrag. Ihre Habseligkeiten passen in eine Sporttasche, ihr Rollenverständnis ist sichtlich egalitärer als unseres. Unterschiede gibt es viele, Mann/Frau ist nur einer davon. Die schmutzig-verklemmten Witze unserer Jugend finden unsere Söhne längst nicht mehr so lustig wie wir damals. Manche verstehen sie überhaupt nicht. Wie unsere Vorfahren fragen auch moderne Nomaden nicht: Wer darf was?, sondern: Wer kann was? Wem es gelingt, „Mann“ oder „Frau“ öfter mal durch „Mensch“ zu ersetzen, der lässt den alten Muster- und Rollenkram automatisch auf den Müllhaufen nutzloser Ordnungsprinzipien wandern.

„Respekt“ heißt die Währung der Zukunft, nicht Herkunft oder Geschlecht. Respekt wird erworben, durch Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit, Empathie, Exzellenz, ganz gleich ob im Elektronenbeschleuniger oder in der Kita. Autorität dagegen wird verliehen, durch Titel, Ämter, Positionen. Ein CEO, Professor, Chefredakteur verliert nicht unbedingt seine Autorität, auf jeden Fall aber den Respekt von Untergebenen, Studenten, Redakteurinnen, wenn er sich danebenbenimmt.

Respekt ist die Basis für Miteinander und das Miteinander der Anständigen das Fundament für die Zukunft. Ob in der Demokratie, in der Familie oder im Unternehmen – überall wird das Gemeinsame zum entscheidenden Kriterium. Ausgerechnet ein konservativer Ölstaat wie Texas hat beispielsweise seine Energiepolitik radikal modernisiert und nutzt das Prinzip des Deliberative Polling: Repräsentative Bürgergruppen arbeiten stellvertretend für den gesamten Staat neue Konzepte aus. Sie werden mit allen relevanten Informationen versorgt und fällen eine verbindliche Entscheidung, etwa für den verstärkten Einsatz regenerativer Energien. Auch hier ist das offene Gespräch gefragt, die Bereitschaft zum Austausch und kein Paviangehabe. Die Frage, was ein echter Mann sei, ist falsch gestellt. Gute Menschen sind immer auch gute Männer, schlechte nie.

Hajo Schumacher, 54, Autor der "Berliner Morgenpost", hat sich mit männlichen Rollenbildern auch in seinem neuen Buch "Männerspagat" (Eichborn-Verlag) beschäftigt.

Hajo Schumacher

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