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George Floyds Tod war der Beginn der größten Protestbewegung seit langem.

© imago images/ZUMA Wire

Was folgt aus dem Urteil gegen Ex-Polizist Chauvin?: Der Ruf nach Gerechtigkeit ist falsch – es geht um Rechenschaftspflicht

Derek Chauvin muss für den Tod von George Floyd mehr als 22 Jahre ins Gefängnis. Auch wenn der Richter es bestreitet: Das Urteil ist ein Exempel. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Juliane Schäuble

270 Monate Haft lautet das Strafmaß. 22,5 Jahre muss der Ex-Polizist Derek Chauvin hinter Gitter, weil er den Afroamerikaner George Floyd getötet hat. Davon wird Chauvin wohl nur 15 Jahre absitzen müssen, zumindest, wenn er im Gefängnis nicht negativ auffällt.

Chauvin ist 45 Jahre alt, er kann also davon ausgehen, seinen Lebensabend in Freiheit zu verbringen, auch seine Mutter wird er wohl wiedersehen können. Floyd, der mit 46 Jahren aufgehört hat zu atmen, kann das nicht.

Ist dieses Strafmaß also ungerecht? Oder anders gefragt: Hat dieses Strafmaß das Potenzial, die erregten Gemüter nicht nur, aber vor allem in Amerika zu beruhigen?

Derek Chauvins Anwalt hatte daran bereits vor der Verkündung Zweifel. Nichts, was Richter Peter Cahill verkünden könne, würde von jenen begrüßt werden, die auf den Straßen Gerechtigkeit fordern, erklärte Eric Nelson. Dafür habe der Fall zu viel Aufmerksamkeit erzeugt.

Der Familienanwalt zeigt sich zufrieden

Die Demonstranten draußen vor dem Gerichtsgebäude in Minneapolis schienen ihm zunächst Recht zu geben. Dies sei keine Gerechtigkeit, riefen sie, und dass sie wütend über die „Doppelstandards“ seien.

Aber zu hören waren auch gemäßigte Stimmen, beispielsweise vom Anwalt der Familie Floyd. Das deutet darauf hin, dass das Strafmaß im Bereich dessen liegt, womit die Angehörigen von George Floyd gerechnet hatten.

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Öffentlich hatten sie für Chauvin lebenslänglich gefordert, weil sie durch den Verlust selbst bereits eine lebenslange Strafe erhalten hätten. Das zu verlangen, war ihr gutes Recht. Aber das Prinzip Auge um Auge hat in der modernen Rechtsprechung kein besonderes Gewicht mehr.

Es sei nicht um Emotionen gegangen, sagt der Richter

Richter Cahill, der seine mehr als 20 Seiten lange, mit Blick auf eine mögliche Berufung verfasste Begründung zum genauen Nachlesen empfahl, betonte, seine Entscheidung nicht auf Grundlage von Emotionen getroffen zu haben, obwohl er den besonderen Schmerz der Beteiligten anerkenne. Auch nicht danach, wie es ihm die öffentliche Meinung nahelege. Es sei ihm nicht darum gegangen, ein Exempel zu setzen.

Die angemessene Strafe für eine Tat zu finden, auch in diesem Fall, sei eine juristische Analyse. Dabei gehe es darum, die Herrschaft des Rechts anhand spezifischer Fakten auf einen individuellen Fall anzuwenden.

Cahill begründete, warum er diese Tat als besonders schwerwiegend einschätze: Chauvin habe als Polizeibeamter seine Machtstellung missbraucht, keine Erste Hilfe geleistet und Floyd in Anwesenheit von Kindern mit „besonderer Grausamkeit“ behandelt, sagte der Richter.

Der Prozess war bis zum Schluss aufwühlend

Dieser Prozess war ungeheuer aufwühlend, auch und gerade in seinen letzten Stunden. Das minutenlange, schier unerträgliche Video, wie Chauvin auf dem Hals von Floyd kniete und dessen herausgepresstes „I cant't breathe“ einfach ignorierte, haben alle Beteiligten immer und immer wieder sehen müssen.

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Auch an diesem Freitag, als Floyds siebenjährige Tochter in einer Videobotschaft davon erzählte, wie sehr sie ihren Vater vermisse, aber auch, als Chauvins Mutter auftrat ja, sie ist ebenfalls fürs Leben gestraft , dominierten über weite Strecken die Emotionen. Via Live-Berichterstattung aus dem Gerichtsgebäude übertrugen sich diese ins ganze Land.

Amerika hat an diesem Prozess ungeheuer viel Anteil genommen. Auch, weil das Land durch die anhaltenden Demonstrationen seit Floyds Tod vor mehr als einem Jahr in Atem gehalten wurde.

Der Druck auf die Jury, die Chauvin im April in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und wegen Mord zweiten Grades ohne Vorsatz schuldig gesprochen hatte, war gigantisch. Auch der Richter spürte diesen Druck.

Die Botschaft: Polizisten werden zur Rechenschaft gezogen

Inwieweit dieser Druck die Entscheidungen beeinflusst hat, werden letzten Endes nur die Beteiligten wissen. Mehr als 22 Jahre für einen Polizisten, der jemand im Einsatz getötet hat, sind alles andere als eine geringe Strafe. Eine Strafe, die in den USA nicht sehr oft verhängt wird.

Ob Richter Cahill es will oder nicht: Davon geht eine starke Signalwirkung aus. Die Botschaft, dass Polizisten für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden, müsste eigentlich selbstverständlich sein. Da sie es lange nicht war, ist dies ein Exempel. Eines, das hoffentlich nachwirken wird.

Denn, auch das wurde während des Prozesses immer wieder gesagt: Das Urteil gegen Chauvin hilft auch der Polizei. So, wie er sich verhalten hat, muss er hart bestraft werden, damit deutlich wird, dass dies kein normales Verhalten ist.

Die tiefer liegenden Probleme der Gesellschaft heilen, den „strukturellen Rassismus“ beseitigen, den „Black Lives Matter“ -Aktivisten beklagen, kann das Urteil wohl nicht. Auch die Forderung nach allgemeiner „Gerechtigkeit“ ist zu groß für ein Gericht.

Aber das Urteil könnte, es sollte dabei helfen, dass das Misstrauen kleiner wird. Auf beiden Seiten. Das wäre ein Erfolg.

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