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Sehr viele Libanesen wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen.

© REUTERS

Warum der Libanon zusammenbricht: Armut, Schulden, Staatsversagen

Der Libanon kämpft mit seiner größten Krise seit 30 Jahren und steht vor dem Kollaps. Wie es dazu kommen konnte. Eine Analyse.

Wenn Ohannis Sarkian in diesen Tagen arbeiten möchte, muss er sich schon selbst beauftragen. Der armenischstämmige Schneider sitzt an seinem rumpligen Arbeitsplatz im Beiruter Stadtteil Burdsch Hammoud und näht den Saum der Bluejeans, die er gerade ausgezogen hat.

Früher hat Sarkian in der Werkstatt, die sein Vater 1966 eröffnet hat, Markisen gegen die sengende Sommersonne geschneidert. Jetzt sind diese – wie vieles andere – für die Libanesen zum Luxus geworden. „Es geht den Leuten nur noch ums Überleben“, sagt der 55-jährige Vater eines Sohnes und zeigt auf die halb verwaiste Einkaufsstraße vor seiner Tür. „Ein Laden nach dem anderen macht dicht.“

Sarkian kommt selbst nur noch ins Geschäft, „weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt.“ Geld habe er keines mehr, aber im Supermarkt seines Freundes könne er anschreiben lassen, das machten alle so, sagt er. Wie lange das so weitergehen könne, wisse er nicht: „Wenn ich anfange, an die Zukunft zu denken, werde ich krank.“

Der Libanon erlebt die größte Krise seit 30 Jahren. Viele meinen, dass die Lage sogar schlimmer ist als im 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg. „Damals gab es immerhin noch Arbeit und Geld“, erinnert sich Sarkian. Jetzt gibt es in Beirut an bis zu 22 Stunden täglich nicht mal mehr Strom.

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Auch die Generatoren, die sonst angesprungen sind, laufen wegen Treibstoffmangel nur noch unzuverlässig. Die einst funkelnde Hauptstadt mit ihrem berühmten Nachtleben liegt nachts weitgehend im Dunkeln.

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Auch ordentlich Gekleidete durchwühlen Mülltonnen

Juweliere und Banken wurden mit Stahlplatten gesichert. Immer mehr Bettler bevölkern die Straßen. Auch ordentlich gekleidete Männer und Frauen fischen in Mülltonnen nach Essen.

Das Wirtschafts- und Politikmodell des Zedernstaats ist an sein Ende gekommen. Nach dem Bürgerkrieg wurde das Machtgleichgewicht zwischen den teils erbittert verfeindeten Bevölkerungsgruppen – 18 verschiedene Religionsgemeinschaften leben in dem Land – neu austariert.

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Oberste Staatsposten, aber auch Positionen bis hinab in die niedere Verwaltung, werden seitdem anhand des Konfessionssystems vergeben. Das setzte das Leistungsprinzip außer Kraft, der Korruption ehemaliger Miliz- und späterer Parteiführer wurden Tür und Tor geöffnet. Der Staat diente drei Jahrzehnte lang als Versorgungsmasse für die jeweilige Klientel.

Am Leben gehalten wurde dieses System durch Banken, die – von der Zentralbank dazu ermutigt – vor allem in den vergangenen Jahren üppigste Zinsen auszahlten. Das ließ sich solange kaschieren, wie von außen Geld nachströmte.

Doch mit der Zeit schrumpften die Rücküberweisungen der Diasporalibanesen, die reichen Golfstaaten stellten ihre Finanzhilfen ein, die Auswirkungen des Krieges im Nachbarland Syrien waren zusätzlich verheerend. Das Kartenhaus stürzte ein.

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In den Wochen der sogenannten Revolution im vergangenen Herbst, als Millionen auf die Straßen zogen, sah es kurz so aus, als könnte sich tatsächlich etwas ändern. Doch die Machthaber spielten auf Zeit und schüchterten die Protestierenden ein. Dann nahm die Covid-19-Pandemie der Revolution den letzten Wind aus den Segeln.

Jetzt haben die meisten Libanesen existenziellere, persönliche Probleme – ihr Überleben. Die Währung hat auf dem Schwarzmarkt rund 80 Prozent ihres Werts verloren, durch die Hyperinflation wurden binnen weniger Monate die Einkommen und Ersparnisse zu einem Großteil vernichtet.

Reformunfähig

Auch können die Libanesen ihr Geld nur noch zu niedrigen wöchentlichen Limits abheben. Der Hilfsorganisation Care zufolge hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr ausreichend zu essen.

Selbst in dieser katastrophalen Lage können sich die Regierenden nicht auf einen Reformplan einigen. Die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) stecken fest. „Die Regierung hat nichts von dem umgesetzt, was der IWF verlangt hat“, sagt der Ökonom Mike Azar.

Seine Analyse: „So wie das libanesische System aufgebaut ist, können die Machthaber gar keinen Konsens finden, geschweige denn harte Maßnahmen umsetzen.“ Denn das würde ihre Pfründe bedrohen. Am Montag trat Außenminister Nassif Hitti zurück.

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In seiner Abschiedserklärung klagte er über die Reformunfähigkeit und warnte, der Libanon könne „ein gescheiterter Staat“ werden. Ein wesentliches Hindernis für Reformen ist die Regierungsbeteiligung der radikalislamischen Hisbollah, die in Deutschland als Terrororganisation verboten ist. Malte Gaier vom Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Beirut sagt: „Wir können nur erahnen, wie viel Macht sie tatsächlich ausübt.“

Ohne frisches Geld wird der Kollaps noch lange andauern. Beobachter sprechen bereits von venezolanischen Verhältnissen. In Anbetracht der Ausweglosigkeit, bereiten viele gut ausgebildete junge Libanesen ihre Auswanderung vor.

Wenn sich die Wirtschaftslage noch weiter verschlimmert, könnten aber auch breitere Bevölkerungsschichten den Exodus wagen, darunter viele der 1,5 Millionen Syrer im Land. Bereits im Mai sprach Premierminister Hassan Diab von solch einer Flüchtlingswelle. Es klang wie eine Drohung für Europa.

Thore Schröder

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