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Wer zieht hier demnächst ein? Der Landtag von Sachsen-Anhalt in Magdeburg.

© dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Wahlen in Sachsen-Anhalt: Zeit für ein neues Experiment in Magdeburg

CDU, FDP, Grüne, SPD und Linke könnten mit flexiblen Mehrheiten zusammenarbeiten und die Verzichtbarkeit der AfD vor Augen führen. Ein Gastbeitrag.

Der Politikwissenschaftler Christian Stecker, 1979 in Halle an der Saale geboren, vertritt seit dem Sommersemester 2020 den Lehrstuhl im Arbeitsbereich Politisches System der BRD und Vergleich politischer Systeme an der TU Darmstadt.

Beim Blick auf die Landtagswahlen am 6. Juni 2021 in Sachsen-Anhalt beschleicht viele ein mulmiges Gefühl. Nach dem bundesweiten Schreck über (heute harmlos anmutende) 12,9 Prozent für die DVU in 1998 und 24,3 Prozent für die AfD in 2016 ist nun ein Fanal nicht ausgeschlossen.

Die AfD, in Sachsen-Anhalt besonders radikal, könnte erstmals stärkste Kraft in einem Landtag werden. Dass dies in dem Bundesland passieren könnte, in dem 2016 die erste Kenia-Koalition gebildet wurde, ist kein Zufall. Kenia-Koalitionen kochen die politischen Gegensätze in der Mitte so stark zusammen, dass die Parteiprofile verwässern und Repräsentationslücken rechts der Mitte aufreißen.

Das Problem beginnt bei der in Deutschland geübten Koalitionspraxis. In Mehrheitskoalitionen unterwerfen sich die Koalitionspartner einem allumfassenden Kompromisszwang. Dies hat in Lagerkoalitionen wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün und mit Abstrichen auch in großen Koalitionen funktioniert. Mit CDU, SPD und Grünen zwängen sich nun aber Parteien ins Koalitionskorsett, die bei zentralen politischen Streitfragen teils fundamental gegensätzliche Standpunkte vertreten.

Entfremdete Stammwähler

Dies schleift besonders dort die Parteiprofile und entfremdet Stammwähler, wo, wie in Sachsen-Anhalt (und auch Sachsen) ein betont konservativer CDU-Landesverband und ein eher linker grüner Landesverband beheimatet sind.

Der politische Wettbewerb verlangt dort vor allem von der CDU andere Inhalte und Strategien als im Westen der Republik. In den Stadtstaaten, aber auch in Flächenländern wie Baden-Württemberg oder Hessen konkurrieren CDU und Grüne inzwischen oft um ähnliche Wählergruppen. Sozialdemokratisierung und Ökologisierung der CDU waren hier einträglich, um Wahlen in der Mitte zu gewinnen. Auch im Osten hat der Anteil derer zugenommen, für die die Wahl beider Parteien denkbar wäre. Eine große Gruppe potentieller Unionswähler ist den Grünen aber nach wie vor in inniger Abneigung verbunden.

Der statistische Durchschnittswähler im Osten ist konservativer und vor allem einwanderungsskeptischer als im Westen. Um diese (tendenziell älteren) Wähler nicht an die AfD oder die Nichtwähler zu verlieren, muss sich die CDU von den Grünen teils deutlich abgrenzen. Abgrenzung von den Grünen bedeutet wohlgemerkt nicht die Übernahme radikaler AfD-Positionen. Häufig wird gesagt, dass die Union einen Kardinalfehler begehe, wenn sie versucht, Wähler mit der Adoption von AfD-Positionen zurückzugewinnen. Dann wählten die Leute eben nicht die Union, sondern das Original.

Im Osten trifft es eher zu, dass die CDU konservative Positionen (aus Wählersicht) freigeräumt hat, die dann von der AfD mit einem nach ganz rechts ausgefranzten Angebot aufgegriffen werden konnten. In dieser Hinsicht liegt Sachsen-Anhalt näher an Österreich, wo eine geschmeidig konservative ÖVP der rechtspopulistischen FPÖ elektoral das Wasser abgraben konnte.

Nuancierte Fortsetzung der Ära Merkel

Die Abgrenzung gegenüber den Grünen wird der Union in Sachsen-Anhalt aber doppelt schwer gemacht: Zum einen kann sie dem bundespolitisch dominierten Diskurs nicht entkommen, in dem es nach der Nominierung Armin Laschets zum Kanzlerkandidaten der Union vor allem um die nuancierte Fortsetzung der Ära Merkel mit anderen Mehrheiten gehen wird. Zum [cs1] anderen wartet in Sachsen-Anhalt, das Kenia-Koalitionskorsett, in dem Abgrenzung meist auf verbale Scharmützel beschränkt bleiben muss.

Mag nur eine Minderheit in der CDU eine Kooperation mit der AfD ernsthaft erwägen, die Sehnsucht nach einem konservativeren Kurs ist weit verbreitet. Diese Sehnsucht erklärt auch die Verzückung, mit der viele Ost-CDUler auf ihnen habituell eher unähnliche westdeutsche Politiker wie Friedrich Merz, Hans-Georg Maaßen oder Rainer Wendt blicken.

Merz und Maaßen sind Projektionsflächen dafür, dass konservative Überzeugungen in Klima-, Einwanderungs- oder Diversitätsthemen noch selbstbewusst vertreten werden können. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kenia ein weiteres Mal in Sachsen-Anhalt (oder Sachsen) funktionieren wird und die AfD „nur“ zweitgrößte Landtags- und größte Oppositionsfraktion bleibt.

Es ist jedoch unklar, wie sehr die Brandmauer gegen die AfD von der Zusage einzelner Spitzenpolitiker wie Rainer Haseloff oder Sven Schulze abhängt und welche Dynamiken sich bei einem Wahlsieg der AfD entfalten könnten. Man sollte sich auch grundsätzlich nicht damit arrangieren, dass im Osten die dort besonders radikalen AfDler jedem vierten Wähler als Alternative  erscheinen. Begreift man die AfD als Gefahr für die Demokratie, liegt es in der staatspolitischen Verantwortung aller moderaten Parteien, von eigenen strategischen Vorteilen abzusehen und gemeinsam die Repräsentationsdefizite zu reparieren.

Bitte kein Kompromisszwang

Die Reparatur müsste insbesondere erreichen, dass die demokratischen Parteien so kooperieren, dass sie – vor allem die Union – wieder ein breiteres Wählerspektrum glaubwürdig ansprechen. Eine konkrete Umsetzungsmöglichkeit liegt auf der Hand: Alle Parteien im Magdeburger Landtag haben bereits mehrfach verkündet, dass die AfD für sie nicht zum demokratischen Spektrum gehöre und eine parlamentarische Kooperation mit ihr ausgeschlossen sei. Aus dieser Festlegung muss nun nur noch eine weitere Konsequenz gezogen werden.

Wenn die AfD kein Partner sein kann, dann fallen ihre Sitze auch aus der Mehrheitsarithmetik. Für die Beschlussfindung ist dann maßgeblich, welche Parteien innerhalb des demokratischen Teilparlaments Mehrheiten bilden können. Die Parteien dürfen dort aber nicht den Fehler wiederholen, der die AfD groß gemacht hat: Es darf kein rigides Korsett geben, in dem fixe Koalitionspartner alles unter Kompromisszwang stellen und sich so die Möglichkeit nehmen, bei ihren Kernthemen möglichst unverwässerte Positionen zu vertreten.

Bei einer flexibleren Mehrheitsbildung könnten die Parteien fallweise kooperieren, die in der jeweiligen Sachfrage die größten Schnittmengen aufweisen. Diese wechselnden Mehrheiten müssten nicht ad hoc gebildet werden und stabilitätsliebenden Bürgern den Schlaf rauben. In langfristig angelegten Gesetzgebungskoalitionsverträgen könnten alle Parteien in unterschiedlichen Konstellationen festlegen, in welchen Bereichen sie zusammenarbeiten und in welchen nicht. Unauflösbarer Dissens (z. B. beim Thema der Rundfunkgebühren) kann in Agree-to-disagree-Klauseln als Sollbruchstelle einer künftigen Landesregierung entschärft werden.

In Neuseeland (und inzwischen Österreich) werden diese Klauseln praktiziert, um auch bei starken Konflikten die Handlungsfähigkeit des Parlaments und die Profile der Parteien zu bewahren. Im demokratischen Teilparlament des Magdeburger Experiments zählt der Anteil an allen Sitzen abzüglich der AfD-Mandate. Darin wäre die Union nach aktuellen Umfragen dominante Kraft. Sie könnte mit SPD, Grünen, FDP und (dies werden viele CDU-Politiker ablehnen) den Linken separat und in unterschiedlicher Zusammensetzung absolute Mehrheiten bilden.

Brandmauer nach rechts

Grundsätzlich könnte die Union auch versuchen, die Tolerierung eigener Positionen im Teilparlament durchzusetzen. Voraussichtlich mehr als die Hälfte der sachsen-anhaltinischen Wähler werden am 6. Juni einer Politik rechts von Linken, SPD und Grünen ihre Stimme geben. Zahlreiche Positionen der Union wären entsprechend mit Unterstützung der AfD durchsetzbar.

Wenn nun aber die Union die historische Verantwortung trägt, die Brandmauer nach rechts zu halten, darf sie dafür Entgegenkommen von Grünen, SPD und Linken erwarten. Allerdings wären auch SPD, Grüne, FDP und Linke grundsätzlich in der Lage, gegen die Union Mehrheiten zu bilden.

Voraussetzung wäre, dass alle Parteien jenseits der AfD ihre Akzeptanz des Magdeburger Experiments darüber ausdrücken, dass sie sich im Fall von Dissens enthalten. Dann wäre der sachsen-anhaltinische Landtag mit den gesetzlich notwendigen einfachen Mehrheiten (mehr Ja-Stimmen als Nein-Stimmen) auch gegen die AfD voll handlungsfähig. Die Praxis zurückhaltender Tolerierung durch Enthaltungen im Tausch gegen (selektiven) politischen Einfluss ist als „confidence & supply“ etwa in Schweden  etablierte Praxis.

Alle Parteien zahlen für diese Form der Mehrheitsbildung einen Preis: Sie können, einschließlich der Union, auch mal auf der Verliererseite stehen. Legitime Mehrheiten gegen sich zu akzeptieren, schmückt aber jeden Demokraten und ist auch strategisch nützlich. Als Verlierer und damit als Bereichsoppositionspartei kann die eigene Position unverändert als Teil des Markenkerns offensiv kommuniziert und damit bei den Wählern um einen größeren Stimmenanteil geworben werden.

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Die AfD würde angesichts der alternative Mehrheiten praktizierenden Altparteien wüten. Ihr Narrativ vom Altparteieneinheitsbrei wird aber nicht mehr so gut verfangen wie zu vergangenen Kenia-Zeiten, denn schließlich werden nun einige Beschlüsse von der CDU und FDP, andere von CDU und SPD und wiederum andere von SPD, Grünen, FDP und Linken gefasst.

„Jetzt ist nicht Zeit für politische Experimente“ steht unter den Plakaten, mit denen die CDU um Spitzenkandidat Reiner Haseloff um Stimmen wirbt . Um die wachsende Minderheit von der Demokratie entfremdeter Wähler für moderate Parteien zurückzugewinnen, wäre das Magdeburger Experiment allemal einen Versuch wert.

Christian Stecker

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