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Präsident Erdogan scheint nicht mehr unbesiegbar.

© Oliver Weiken, dpa

Wahl in der Türkei: Erdogans Macht bröckelt

Die Türkei wählt am Sonntag den Präsidenten und das Parlament. Erdogan wirkte lange wie der sichere Sieger. Droht ihm jetzt doch ein Debakel?

Recep Tayyip Erdogan setzt alles auf eine Karte. Bei den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag will der türkische Staatschef einen Systemwechsel durchsetzen, der ihm selbst noch weiter reichende Machtbefugnisse sichern würde. Doch obwohl der 64-Jährige alle staatlichen Institutionen und einen Großteil der Medien auf seiner Seite hat, sieht er sich einer überraschend starken Opposition gegenüber, die seine Pläne durchkreuzen könnte. 15 Jahre nach Erdogans Machtantritt ist ein Regierungswechsel in der Türkei nicht mehr ausgeschlossen.

Was kann durch diese Wahlen anders werden?

Erdogan hat die turnusgemäß erst im November nächsten Jahres anstehenden Wahlen vorgezogen, weil er die Opposition auf dem falschen Fuß erwischen wollte. Zudem hat er sich mit der Nationalistenpartei MHP verbündet. Mit der Doppelwahl für ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten will er durch ein möglichst eindeutiges Votum der 57 Millionen Wähler den Wechsel von der parlamentarischen Republik zu einem Präsidialsystem vollenden. Dann wäre der Mann an der Spitze nicht nur Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten würde abgeschafft. Der Systemwechsel war bei einem Referendum im vergangenen Jahr beschlossen worden, tritt aber erst mit der Neuwahl des Präsidenten in Kraft. Das Parlament würde viele Rechte einbüßen. Erdogan argumentiert, das neue System werde das Regieren effizienter machen. Kritiker sprechen dagegen von einem Marsch in die Diktatur.

Kann Erdogan sein Ziel verfehlen?

Die meisten Umfrageinstitute sagen voraus, dass der sieggewohnte Staatschef die für einen direkten Sieg nötige Marke von 50 Prozent plus einer Stimme verfehlen wird. Dann müsste sich Erdogan am 8. Juli einer Stichwahl gegen den stärksten Kandidaten der Opposition stellen. Für Erdogan wäre das eine Demütigung – auch wenn er am Ende doch gewinnt.

Wie könnte die Parlamentswahl ausgehen?

Hier deuten sich noch größere Schwierigkeiten für Erdogan und die AKP an. Selbst regierungsnahe Institute erwarten, dass die Regierungspartei ihre Mehrheit verliert. Erdogan hat diese Möglichkeit inzwischen auch offen eingeräumt. Die AKP hofft, dass sie zumindest zusammen mit der MHP eine Mehrheit von mehr als 300 Parlamentssitzen erreicht. Denn eine Volksvertretung mit Oppositionsmehrheit könnte Erdogan auch unter den Regeln des Präsidialsystems das Leben schwer machen. Deshalb wird schon über abermalige Neuwahlen in den nächsten Monaten spekuliert.

Warum schwächelt Erdogan?

Dass Erdogan um die Zustimmung der Türken kämpfen muss, liegt zum einen an der Wirtschaftsentwicklung. Ein Kursverfall der Lira, der Landeswährung, hat viele Importgüter deutlich teurer gemacht und Firmen mit Dollar-Schulden in Schwierigkeiten gebracht. Hinzu kommen eine steigende Inflation und eine hohe Arbeitslosigkeit. Erdogan selbst hat Investoren mit Äußerungen über eine stärkere politische Einflussnahme auf die nominell unabhängige Zentralbank zusätzlich verunsichert. Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, dass sich viele junge Wähler besonders in den Großstädten von der AKP abwenden. Bei älteren Konservativen bleibt Erdogan dagegen sehr beliebt.

Auch das starke Auftreten der Opposition spielt eine Rolle. So greift eine neue nationalistische Partei, die IYI Parti (Gute Partei) das Bündnis aus AKP und MHP von der rechten Seite an. Die Säkularistenpartei CHP geht mit einem attraktiven Präsidentschaftskandidaten und neuen Ideen ins Rennen. So wie sich die AKP mit der MHP verbündet hat, haben drei Oppositionsparteien eine eigene Allianz gegründet.

Wie haben die Türken in Deutschland gewählt?

Für die Auslandstürken, deren größte Gruppe in Deutschland lebt, endete die Abstimmung bereits am Dienstagabend. Die Ergebnisse müssen bis zur Schließung der Wahllokale in der Türkei selbst unter Verschluss bleiben. In Deutschland hat fast jeder zweite wahlberechtigte Türke die Möglichkeit zur Stimmabgabe genutzt. Nach Angaben der Wahlkommission vom Mittwoch lag die Beteiligung bei 49,7 Prozent. Damit war sie etwas höher als beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr. Damals hatten 48,8 Prozent der in Deutschland registrierten Wähler ihre Stimme abgegeben. In Berlin gingen 44,2 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen.

Welche Rolle spielen die Kurden?

Die rund zwölf Millionen kurdischen Wähler könnten zum Königsmacher werden. Der Präsident stellt die HDP als politischen Arm der als Terrororganisation verbotenen PKK dar. Als kürzlich bei einer Auseinandersetzung zwischen AKP-Politikern und Kurdenvertretern in Suruc an der Grenze zu Syrien mehrere Menschen ums Leben kamen, sprach Erdogan von Morden durch PKK und HDP. Der krude Angriff auf die HDP hat einen Grund: Schafft diese mit mehr als zehn Prozent der Stimmen den Wiedereinzug ins Parlament, verliert die AKP mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Mehrheit.

Mit einer seit Tagen laufenden Militäroffensive gegen die PKK im Norden Iraks versucht Erdogan zudem, die nationalistische Stimmung im Land anzuheizen. Der Präsident hat angedeutet, dass die türkische Armee das Hauptquartier der PKK in den irakischen Kandil-Bergen noch vor dem Wahltag angreifen könnte. Kurdenaktivisten werfen der AKP vor, Anhänger der HDP einzuschüchtern und möglicherweise Wahlmanipulationen vorzubereiten, um die Kurdenpartei unter zehn Prozent zu drücken.

Was bedeuten die Wahlen für das türkisch-europäische Verhältnis?

Eine rasche Wiederannäherung zwischen der Türkei und Europa ist nicht zu erwarten. Laut Medienberichten will Erdogan das türkische EU-Ministerium abschaffen. Der in den vergangenen Jahren gewachsene Druck auf Andersdenkende in der Türkei hat in Europa so viel Misstrauen entstehen lassen, dass zielgerichtete Verhandlungen über eine türkische EU-Mitgliedschaft ohnehin ausgeschlossen erscheinen. Zudem ist Erdogan entschlossen, in seiner Außenpolitik – etwa im Verhältnis zu Russland – eine andere Linie zu verfolgen als die westlichen Partner. Auch ein Sieg oder ein Teilsieg der Opposition ist kein Garant für bessere Beziehungen zwischen der Türkei und Europa. Zum einen wäre das Land in diesem Fall auf Monate hinaus mit sich selbst beschäftigt. Zum anderen sind auch die meisten Oppositionsparteien nicht EU-freundlich.

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