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Fanatismus wächst. Das rechtsextreme Spektrum wird größer und die Gewaltbereitschaft nimmt zu. Im Bild ein Neonazi bei einem Heß-Aufmarsch2017  in Berlin.

© imago/IPON

Exklusiv

Wachsende Gefahr für die innere Sicherheit: Bedrohung durch Rechtsextremisten und Reichsbürger nimmt zu

Der Verfassungsschutz zieht eine erste Bilanz für 2020: Die Gewaltbereitschaft in der rechten Szene wächst, doch NPD und AfD-Vereinigungen stagnieren.

Von Frank Jansen

Die Bedrohung der inneren Sicherheit durch Rechtsextremisten und Reichsbürger nimmt in der Coronakrise weiter zu. Der Verbund der Verfassungsschutzbehörden habe 2020 in beiden Szenen deutlich mehr Personen als im Jahr zuvor festgestellt, sagten Sicherheitskreise dem Tagesspiegel. Das rechtsextreme Spektrum wuchs um rund 1200 Anhänger auf insgesamt 33 300, bei den Reichsbürgern gab es eine Zunahme um 1000 Personen auf 20 000.

Reichsbürger halten die Bundesrepublik für illegitim, zum Teil überschneidet sich diese Szene mit rechtsextremen Milieus. Der Verfassungsschutz bezeichnet 1000 Reichsbürger (2019: 950) als rechtsextrem. Bei den Corona-Protesten seien die früher öffentlich wenig wahrnehmbaren Reichsbürger stärker sichtbar geworden, hieß es. Verfassungsschützer aus Bund und Ländern hatten im Dezember ihre Erkenntnisse in einer Videokonferenz zusammengetragen.

Zusätzliche Sorge bereitet den Sicherheitsbehörden die wachsende Militanz bei Rechtsextremisten. Das Potenzial der Gewaltorientierten sei auf 13 300 Personen gewachsen, hieß es. Das sind 300 mehr als 2019. Der Trend entspreche dem Anstieg der Straftaten von Neonazis und anderen Rechten. Gewaltorientierte Reichsbürger werden vom Verfassungsschutz bislang nicht eigens erfasst, doch das solle sich ändern, sagte ein Experte.

Die Polizei registrierte nach Informationen des Tagesspiegels von Januar bis November 2020 bereits 19 703 rechte Delikte, darunter 902 Gewalttaten. Mindestens 283 Opfer wurden verletzt, neun Menschen starben im Februar bei dem Anschlag des Rassisten Tobias Rathjen in Hanau.

Die Zahlen sind den Antworten der Bundesregierung auf monatliche Anfragen von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) und ihrer Fraktion zu entnehmen. Die Bilanz wird sich noch weiter eintrüben, da die Polizei erfahrungsgemäß viele Taten nachmeldet. Damit zeichnet sich ab, dass 2020 ein noch härteres Jahr war als 2019.

Immer mehr rechte Akteure im Internet

Ein Grund für das Wachstum des rechtsextremen Spektrums sind die weiter zunehmenden Aktivitäten vieler ungebundener Akteure im Internet. Beobachtet werde „ein Trend zur Gruppenbildung im Netz, manchmal nur temporär, und ein Abrücken von Organisationen“, sagte ein Sicherheitsexperte.

Der Verfassungsschutz bekomme dank intensivierter Internetrecherche mehr mit, heißt es. Womöglich seien wachsende Zahlen im rechten Spektrum zum Teil auch mit der stärkeren Beobachtung zu erklären. Außerdem stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) 2020 das rechte "Compact"-Magazin, das "Institut für Staatspolitik" und den Verein "Uniter" als Verdachtsfälle ein. Damit ist eine nachrichtendienstliche Beobachtung möglich.

In rechten Parteien, von der AfD bis zur NPD, tut sich beim Potenzial der Anhänger allerdings wenig. Der Verfassungsschutz stellte 2020 bei rechten Parteien insgesamt einen leichten Rückgang auf 13 250 Mitglieder (minus 80) fest. Den AfD-Vereinigungen „Der Flügel“ und „Junge Alternative“ seien wie 2019 insgesamt 8600 Mitglieder zuzurechnen, sagten Sicherheitskreise.

Das BfV hatte den Flügel im März 2020 als erwiesen rechtsextremistisch bewertet und vom Verdachtsfall zum klassischen Beobachtungsobjekt hochgestuft. Die von "Flügel"-Chef Björn Höcke verkündete Selbstauflösung gilt als vorgetäuscht. Die AfD-Nachwuchsorganisation „Junge Alternative“ ist seit 2019 ein „Verdachtsfall“, der Verfassungsschutz kann sie somit auch in der Rubrik Rechtsextremismus nennen. Sollte das BfV demnächst auch die Gesamtpartei AfD zum Verdachtsfall erklären, würde im Jahresbericht der Behörde das rechtsextreme Spektrum gewaltig wachsen.

NPD auf ihren "Traditionsbestand" reduziert

Die NPD bröckelt unterdessen weiter. Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes hat die älteste rechtsextremistische Partei der Bundesrepublik nur noch 3500 Mitglieder. 2019 waren es 100 mehr. Die NPD habe sich „auf ihren Traditionsbestand reduziert“, sagte ein Sicherheitsexperte. Bei Wahlen habe sie gegen die AfD keine Chance, auch die Teilnahme an Demonstrationen der Coronaleugner bringe keinen Zulauf.

Der NPD droht zudem der Entzug der staatlichen Teilfinanzierung. Der Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung liegt seit Juli 2019 beim Bundesverfassungsgericht. Ohne die Coronakrise hätten die Richter in Karlsuhe vermutlich bereits 2020 eine Verhandlung angesetzt und ein Urteil verkündet.

Die neonazistischen Miniparteien „Die Rechte“ und „Der III. Weg“ stagnieren, obwohl auch sie bei den Coronaprotesten andocken. „Die Rechte“, ihr Schwerpunkt liegt in Nordrhein-Westfalen, hat weiter rund 550 Mitglieder. „Der III. Weg“ nahm minimal (plus 20) auf 600 Mitglieder zu. Die rassistische "Identitäre Bewegung Deutschland" bleibt mit rund 600 Mitgliedern auf dem Stand von 2019.

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