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Am 2. Februar 2020 besetzten Klima-Aktivistinnen und Aktivisten das Gelände des neuen Steinkohlekraftwerks Datteln 4.

© Caroline Seidel/picture alliance/dpa

Vorwurf des Hausfriedensbruchs bei Klima-Protest: Warum ein Linken-Abgeordneter vor Gericht steht

Der Politiker Lorenz Gösta Beutin muss sich nach einem Klima-Protest vor Gericht verantworten. Das Verfahren wirft die Frage auf, was Abgeordnete dürfen.

Es ist fast noch dunkel, als Aktivistinnen und Aktivisten in weißen Overalls auf das Gelände des Kohlekraftwerks Datteln 4 vordringen. Sie besetzen Förderbänder und Verladeanlagen und entrollen ein Transparent mit der Aufschrift „Exit coal - enter future“. Mit der Besetzung will das Klima-Bündnis „Ende Gelände“ gegen die Inbetriebnahme des neuen Kraftwerks, gegen die Kohlepolitik der Bundesregierung und die Abbaubedingungen der Kohle in Sibirien und Kolumbien protestieren.

Die Aktion wird von dem Linken-Bundestagsabgeordneten Lorenz Gösta Beutin begleitet, der in seiner Fraktion für das Thema Klimaschutz zuständig ist. Er trägt eine gelbe Warnweste, die ihn als „parlamentarischen Beobachter“ kenntlich macht. An diesem Donnerstag muss sich Beutin wegen seiner Teilnahme an dem Klima-Protest nun vor dem Amtsgericht Recklinghausen verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Linken-Vorstandsmitglied Hausfriedensbruch vor.

Beutin hat die Protestaktion an der Seite der Aktivistinnen und Aktivisten genau dokumentiert. Neben dem Linken-Politiker begleitet auch der Grünen-Europaabgeordnete Michael Bloss die Aktion. Er steht nicht vor Gericht, weil sich offenbar die Wege der beiden Politiker am 2. Februar 2020 an einem entscheidenden Punkt trennten.

„Dann rauf auf den ersten Kohlekran“

Gemeinsam mit den Teilnehmenden fahren die beiden Abgeordneten in einem Bus in die Nähe des Kraftwerks, von dort geht es zu Fuß weiter über eine Landstraße und durch einen Wald. „Also runter vom Weg, damit wir nicht in die Arme der Polizei laufen, die auf uns wartet, irgendwie hat sie doch Wind von unserer Aktion bekommen“, schreibt Beutin in seinem Bericht. „Jetzt muss es ganz schnell gehen. Über ein abgeerntetes Feld – die Stoppeln sind fiese Stolperfallen – laufen wir auf das Kraftwerk zu, dann über die Schienen und durch ein offenes Tor, den Zaun entlang. Da ist es, das Kraftwerk, die Berge von Kohle aus Sibirien und Kolumbien, Förderbänder und Kräne. Wir rennen durch eine Wüste von Matsch (…). Dann rauf auf den ersten Kohlekran.“

Anders als Beutin ist der Grünen-Abgeordnete Bloss offenbar nicht mit durch das Werkstor gegangen, er veröffentlicht später auf Twitter einen Film, der die Aktion von außerhalb des Zaunes dokumentiert.

Die Polizei Recklinghausen wirft den Demonstrierenden vor, gewaltsam auf das Gelände gelangt zu sein. Ein Tor sei aufgebrochen worden.

Auf Nachfrage des Tagesspiegels bleibt Beutin bei seiner Darstellung, das Tor sei offen gewesen. Andernfalls wäre er auch nicht auf das Gelände gegangen. „Ein parlamentarischer Beobachter beobachtet und verhält sich neutral, er klettert nicht über Zäune oder behindert die Arbeit der Polizei.“ Der Linken-Abgeordnete weist darauf hin, dass die parlamentarische Beobachtung zu einer „Deeskalation zwischen Protestierenden und Polizei“ führe, beispielsweise habe man dies im Hambacher Forst beobachten können. Die Polizei habe bisher eher positiv auf die Anwesenheit der Abgeordneten reagiert.

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Neun Stunden dauert die Aktion am Kohlekraftwerk Datteln 4, bis die mehr als 100 Menschen den Aufforderungen der Polizei folgen und das Gelände verlassen. Die Aktivistinnen und Aktivisten weigerten sich zuvor, ihre Personalien anzugeben. So konnte zunächst niemand identifiziert werden. Außerdem hatten sich nach Angaben des nordrhein-westfälischen Innenministeriums etwa 50 Personen die Fingerkuppen verklebt, um eine Identifizierung zu erschweren.

Der Energiekonzern Uniper erstattete Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. „Auch wer für einen guten Zweck demonstriert, muss sich an Recht und Gesetz halten“, mahnte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU).

Vor dem Amtsgericht Recklinghausen wird es zumindest indirekt um die Frage gehen, was Abgeordnete auf Protestkundgebungen dürfen – und was nicht. Beutin beruft sich darauf, dass er als „parlamentarischer Beobachter“ dabei war und ihm ein Polizist mündlich zusicherte, sich frei auf dem Gelände bewegen zu dürfen.

Linke fordert Änderung des Versammlungsrechts

Nach dem Versammlungsrecht genießen Abgeordnete allerdings keine besonderen Rechte, wenn sie an Kundgebungen teilnehmen oder diese beobachten. Sie dürfen nur nicht in Gewahrsam genommen werden. Der Bundestag hob im März Beutins Immunität auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bochum auf und machte damit den Weg für das Verfahren frei.

Die Linksfraktion fordert nun eine Änderung des Versammlungsrechts. Abgeordnete müssten vor „unverhältnismäßiger Strafverfolgung“ geschützt werden, fordern Fraktionschef Dietmar Bartsch und Beutin in einem gemeinsamen Papier. „Die Strafverfolgung von Lorenz Gösta Beutin ist ein Beispiel von vielen und steht exemplarisch für die aus unserer Sicht ungerechtfertigte Kriminalisierung von Mandatsträger*innen in Bund, Land und auf kommunaler Ebene bei der Ausübung der Parlamentarischen Beobachtung.“

Anderthalb Jahre nach der Kraftwerks-Besetzung ist Beutin der einzige der Anwesenden, der sich überhaupt vor Gericht verantworten muss. Ungefähr zehn Verfahren seien mit einer Einstellung nach §153a der Strafprozessordnung abgeschlossen worden, sagte der Bochumer Oberstaatsanwalt Christian Kuhnert dem Tagesspiegel. Eine solche Einstellung ist in der Regel mit Auflagen verbunden und setzt die Zustimmung des Beschuldigten voraus. Auch Beutin wurde die Einstellung des Verfahrens angeboten, doch dafür hätte er seine Schuld anerkennen müssen. „Das kam nicht in Frage, schließlich bin ich unschuldig.“

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